Es gehört zum geglückten Teil der Festspieldramaturgie, wenn der alljährlich verliehenen Händelpreis der Stadt Halle diesmal postwendend nach einem exemplarischen Beispiel für die damit gewürdigte Leistung überreicht wird. Die aktuelle Preisträgerin ist die Italienerin Anna Bonitatibus. Sie adelt die Neuproduktion von Händels spätem „Serse“ aus dem Jahre 1738, mit dem die Oper Halle ihren traditionellen, alljährlichen Festspielbeitrag in diesem Jahr bestreitet. Von den Zuschauern der Festspielpremiere im nicht ausverkauften Haus wird niemand diese Auszeichnung bezweifeln.
Anna Bonitatibus mit warmem, einschmeichelndem Timbre und perfekt dosierter Kondition und Eloquenz
Denn die international gefeierte Mezzosopranistin ist ein hinreißender Perserkönig. Mit warmem, einschmeichelndem Timbre und perfekt dosierter Kondition und Eloquenz sorgte sie für eine intensive Gestaltung dieser gar nicht so kleinen Partie. Regisseurin Louisa Proske verlangte ihr dabei nicht wirklich die Einfühlung in den legendären exzentrischen Perserkönig ab, der der Überlieferung nach eine Pontonbrücke zwischen den Kontinenten errichten wollte, um Europa zu erobern, und der, als das zunächst scheiterte, zur Strafe das Meer auspeitschen ließ.
Der Perserkönig als global agierender Öl-Milliardär
Für die Inszenierung (es ist die vierte in Halle seit dem Beginn der anhaltenden Wiederentdeckung Händels vor über hundert Jahren) kommt sie damit über die Runden, sich an der Selbstdarstellung eines Elon Musk oder Donald Trump zu orientieren. Proske macht aus dem Perserkönig einen global agierenden Öl-Milliardär, für den ein Privatjet zum normalen Fuhrpark gehört. Er befehligt keine Heere (nur eine kleine Truppe von Sicherheitsleuten), aber sponsert Fußballvereine. An die Selbstherrlichkeit eines absolutistischen Herrschers erinnert hier weniger die Geste, mit der er die gut gefüllten Prämien-Umschläge an die Spieler verteilt, als vielmehr das Aus für einen von ihnen, den das offensichtlich das Leben kostet.
Für ein tv-serienerfahrenes Publikum ist das skrupellose Agieren der Reichen und Mächtigen von heute allemal leichter nachzuvollziehen als die Rituale im alten Perserreich. Mit dem Privatjet, den Ausstatter Jon Bausor auf die Drehbühne gestellt und auf einer Seite geöffnet hat, sichert er den Protagonisten (als Nebeneffekt) meist eine komfortable Rampenposition (im doppelten Wortsinn) mitten in unserer Gegenwart. Für deren Wiedererkennbarkeit fehlen weder die Zeichensprache der rotuniformierten Stewardessen, noch die diversen Übergriffigkeiten im Luxusjet oder die Klimakleber davor. Dass die Protestierer nicht nur ihre Pappschilder dabei haben, die dem Öl-Magnaten verkünden, dass es keinen Planeten B gibt, sondern auch eine kleine Ballerina mit Öl beschmieren, gehört zu den dezent hintersinnigen Einfällen; zu den eher witzigen die einschwebenden Wölkchen oder Blitze direkt aus dem Arsenal des Barocktheaters. Sie ergänzen mit einem Augenzwinkern eine Szenerie, die ansonsten an das überschreibende Regietheater der vergangenen Jahrzehnte erinnert.
Das Zelebrieren eines veritablen Beziehungshin-und-her
Da Attilio Cremonsi als aktueller Pultgast mit dem Händel-Festspielorchester für einen entsprechenden Drive und Tempo sorgt, funktioniert diese Übersetzung exemplarischer barocke Unterhaltung ins Hier und Heut insgesamt gut. Zumal sie sich mit ihren direkten Zeitbezügen (Machtgrößenwahn, Ressourcenverschwendung versus Umweltaktivisten) auch nicht überhebt, sondern das eher als Hintergrund nutzt, um vor allem ein veritables Beziehungshin-und-her zu zelebrieren und allen Protagonisten eine Bühne zu bieten, auf der sie vokal barocke Standfestigkeit demonstrieren können. Dabei besticht der Counter Leandro Marziotte als Serses Bruder Arsamene mit imponierender Klarheit und Durchschlagskraft. Ihm versucht Serse mit allen Mitteln die Braut (die Stewardess Romilda) auszuspannen, obwohl die nichts von ihm will. Es braucht etliche Umwege, bis die beiden zueinanderfinden und Serse – mehr unfreiwillig – zu „seiner“ Aamastre (Yulia Sokolik so spielfreudig wie höhensicher) zurückkehrt.
Bis dahin muss nicht nur Serse, sondern auch Romildas Schwester Atalanta (mit vokal beweglichem Sich-sträuben: Vanessa Waldhardt), die selbst auf Arsamene scharf ist, davon überzeugt werden, wer hier das Liebespaar fürs Finale ist. Ihren Beitrag auf dem mit Intrigen gepflasterten Weg dahin leistet zudem der urkomische Elviro. Es ist köstlich, wie Andreas Beinhauer als Steward in einem Riesenkoffer verschwindet und als Stewardess mit entsprechender Stimmlage wieder rauskommt. Schließlich muss Michael Zehe als Romildas Vater Ariodate den Willen des großen Bosses gründlich missverstehen, damit alles ins Lieto-fine-Lot kommt. Allesamt haben sie sich den Intrigenhabitus der Geschichte darstellerisch überzeugend anverwandelt. Wie die Regisseurin sich das Ganze gedacht hat, führte sie am Premierenabend, gezwungenermaßen, auf der Bühne selbst vor. Da Franziska Krötenheerdt als Romilda krankheitsbedingt ausgefallen war, übernahm die Regisseurin selbst den darstellerischen Teil dieser Rolle auf der Bühne, während Yewon Han (die vor kurzem gerade für ihre Romilda in Winterthur gefeiert worden war) vom Graben aus atemberaubende Höhenflüge beisteuerte. Was insgesamt fabelhaft funktionierte.
„Ombra mai fu“ singt die Preisträgerin als Zugabe – und verführt das Premierenpublikum zum Mitsingen
Anna Bonitatibus hatte mit ihrem „Ombra mai fu“ das Maß für den Abend vorgegeben. Und beschloss ihn damit. Nach der Übergabe des Händelpreises durch den Bürgermeister und einer berührenden Laudatio von Attilio Cremonesi bedankte sich die sympathische Sängerin nicht nur mit einer „Ombra mai fu“ Zugabe. Sie schaffte es, das Publikum zum Mitsingen zu bewegen. So viel Händelbegeisterung (und Mitsingkompetenz) erlebt man in Halle auch nicht alle Tage!
Händel-Festspiele Halle
Händel: Serse
Ausführende: Attilio Cremonesi (Leitung), Louisa Proske (Regie), Jon Bausor (Ausstattung), Natalie Burgmann (Kostümmitarbeit), Carlo Mertens (Dramaturgie), Anna Bonitatibus, Leandro Marziotte, Yewon Han (Gesang) / Louisa Proske (Szene), Vanessa Waldhart, Yulia Sokolik, Andreas Beinhauer, Michael Zehe, Händelfestspielorchester Halle, Chor der Oper Halle