Manchmal ist ja die pure Lust am Rekord ein Motiv. Wenn von den überlieferten 42 Händel-Opern im Aufführungsverzeichnis der alljährlichen Festspiele in seiner Geburtsstadt Halle an der Saale nur noch eine einzige fehlt, dann setzt die sich früher oder später selbst aufs Programm. In dem Fall: später. Die bis dato noch fehlende „Berenice, regina d’Egitto“ aus dem Jahre 1737 schaffte es erst jetzt zum Auftakt der Händel-Festspiele Halle auf die Bühne des heimischen Opernhauses.
Dieses Alleinstellungsmerkmal der Händel-Stadt und ihrer Oper ist auch eine selbstorganisierte Prämie für Beharrlichkeit abseits der Moden. Wer hat schon seit Jahrzehnten immer mindestens zwei Händelopern auf dem Spielplan? Und die damit gewachsene Sachkunde bei den längst historisch „bewaffneten“ Musikern des Händelfestspielorchesters, bei den Sängern im Ensemble und beim Publikum?
Berenice: Dieses Schmuckstück macht süchtig
Beim Rekordendspurt kommt noch das Quäntchen Glück hinzu, das man halt auch manchmal braucht. Berenice erwies sich nämlich in der Inszenierung von Jochen Biganzoli, mit Jörg Halubek am Pult und mit einem Ensemble von Protagonisten aus dem Haus und handverlesenen Gästen, keineswegs nur als ein Werk, das man der Vollständigkeit halber gemacht haben muss. Sie ist eher ein von der Nachwelt inklusive der Händerenaissance im Grunde verschusseltes Schmuckstück aus der Kategorie von Barockopern, die süchtig machen können – gleich hinter „Alcina“ oder „Ariodante“. Man hat gar keine Chance, dem suggestiven Sog der Musik und dem Furor der Arien oder dem entsprechenden Innehalten auszuweichen.
Dabei ist das Libretto nach Antonio Salvi ein Musterbeispiel von barockem Wirrwarr. Vor einem machtpolitischen Hintergrund (der Senat in Rom hat taktische Heiratsbefehle für die abhängige ägyptische Königin) geht es um Liebschaften in erwünschten bzw. nicht erwünschten Konstellationen. Und da dann gleich um Leben und Tod. Wobei am Ende niemand zu Schaden kommt und das liteo fine zumindest beziehungstechnisch seinen Namen auch verdient. Jochen Biganzoli, Wolf Gutjahr (Bühne), Katharina Weissenborn (Kostüme) und Konrad Kästner (Video) machen aus der Vorlage eine verblüffend gegenwartsnahe Bühnenshow, bei der es fröhlich zwischen der perückenaffinen Entstehungszeit der Oper und unserer handyverrückten Gegenwart hin und her geht.
Die reichlich rotierende Drehbühne hinter dem Glitzervorhang ist ein Karussell mit acht Räumen. In denen sind Doppelbett und Schreibtisch, Sofa und Sessel sowie Garderobenständer mit den historischen Kostümen oder aber Kühlschrank und Mikrofon verteilt.
Wer hat die längere Lanze?
Auf allen Wänden und oben drüber schwappt die Bilderflut aus dem Netz von heute auf uns ein. Da bleibt gerade noch genügend Platz, um das mitzulesen, was die Akteure so alles heimlich privat oder offiziell chatten oder posten. Es kommt einem irgendwie bekannt vor, wenn man mitliest, was der römische Botschafter Fabio (geschmeidig und bewusst schmierig: Tenor Robert Sellier) über die Länge von ägyptischem Schwert und römischer Lanze twittert. Oder wenn man die gestammelten Ausreden des Liebhabers der Königin Demetrio auf seinem Display mitliest, wenn der von seiner eigentlichen Flamme, der Schwester der Königin Selene (Svitlana Slyvia), mit diversen Herzchen über WhatsApp befeuert wird, während er bei der anderen ist.
Auf diese Weise kommt man zusammen mit den Übertiteln in dem Verwirrspiel erstaunlich gut zurecht. Die anfangs bewusst auf Überforderung setzende Bilderflut wird zur Orientierungshilfe. Und wenn dann das gesamte Personal immer öfter zum Handy greift, um bei jeder Gelegenheit Selfies zu machen, dann fühlt sich das Publikum auf höchst amüsante Weise „erwischt“ und gibt jeden Widerstand, den es anfänglich gegen diese Vergegenwärtigung gegeben haben mag, auf. Außerdem nimmt Biganzoli das Ganze selbst auf die Schippe.
Vokaler Händelstandard auf veritablem Festspielniveau
Am Ende einer atemberaubenden, endlosen Verzweiflungsbravour-Arie, bei der sich der kraftvoll exzellente Counter Filippo Mineccia (jener Liebhaber zwischen den Schwestern) vorher schon das Hemd zerrissen hat, zieht er den Stecker und knipst die Bilderflut aus. Szenenapplaus gibt‘s dann für die Arienbravour und diese Aktion!
Das Ganze geht auch deshalb so überraschend gut auf, weil das Ensemble nicht nur in der Leichtigkeit seines völlig natürlich wirkenden Spiels mit vollem komödiantischem Einsatz bei der Sache ist, sondern auch vokal Händelstandard auf Festspielniveau bietet. Romelia Lichtenstein in der Titelpartie etwa begeisterte nicht nur mit einer betörenden Arie, bei der sie vorm geöffneten Kühlschrank ihren Heißhunger auf Eis so exzessiv nachgibt, dass sie danach rausrennen muss und in der nächsten Szene mit einer Tasse Tee in der Ecke sitzt.
Ein Schmankerl ist auch ein virtuoses koloraturgespicktes Solo mit einem Instrument, für das sie zum Oboisten in den Graben steigt, während der Bass Ki-Hyun Park als Spielmacher Aristolo im Glitzeranzug mit der Handkamera das Publikum im hell erleuchteten Saal (zu dessen Erheiterung) filmt. Franziska Gottwald kriegt als Arsace am Ende niemanden ab, schwingt zwischendurch den Großen Besen als Putzfrau mit Würde.
Supertalent Sopransänger
Der Knaller freilich ist der Sopransänger Samuel Mariño! Sängerisch wie darstellerisch verschlug der Venezolaner mit seiner fulminanten und sicheren Höhe selbst erfahrenen Händelfans die Sprache. Er ist der Bauer im römischen Macht-Schach und soll Berenice heiraten – was er auch will und am Ende darf. Auf der Bühne ist das sympathische Naturtalent vom ersten hohen Ton an der König. Hoffentlich war man in Halle so klug, sich den auch für später zu sichern, wenn alle gemerkt haben, was da für ein Supertalent die Bühne der Oper(nwelt) betreten hat.
Händelfestspiele Halle
Händel: Berenice, regina d’Egitto
Jörg Halubek Leitung), Jochen Biganzoli (Regie), Wolf Gutjahr (Bühne), Katharina Weissenborn (Kostüme), Romelia Lichtenstein, Samuel Mariño, Filippo Mineccia, Svitlana Slyvia, Franziska Gottwald, Robert Sellier, Ki-Hyun Park, Händelfestspielorchester Halle