Wenn im Schlussbild eines russischen Opernwerks eine meterhohe Coca-Cola-Flasche auf einem gigantischen Louis-Vuitton-Sockel in den Bühnenhimmel emporragt, ist die Botschaft unmittelbar klar: Hier geht es um alte Ost-West-Konflikte, den Niedergang des Sozialismus und Kapitalismuskritik im Retrostil – ein Ende durch die Wende sozusagen. Der in Ost-Berlin gebürtige Regisseur Frank Castorf zeigt mit seinem „Boris Godunow“ zur Saisoneröffnung an der Hamburgischen Staatsoper einen Abriss der sowjetischen Geschichte, spart dabei jedoch die jüngsten schrecklichen Entwicklungen des Weltgeschehens komplett aus.
Bereits vor drei Jahren hatte Frank Castorfs Lesart des Mussorgski-Puschkin-Stoffes in Hamburg in Produktion gehen sollen. Damals kam die Pandemie dazwischen. Mittlerweile hat sich mit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor allem in Bezug auf die allgemeine Russland-Rezeption einiges verändert. Dass gerade Castorf, der mit seinen Inszenierungen seit jeher gern für diskutablen Zündstoff sorgt, hier nun auf jeglichen Aktualitätsbezug verzichtet, ist zweifelsohne überraschend. Zwar wertet dies die szenische Umsetzung des Werks nicht unbedingt ab, es entzieht ihr jedoch jegliche Brisanz.
Das Volk als Protagonist
Eigentlicher Protagonist in „Boris Godunow“, des, wie Mussorgski es selber nannte, „musikalischen Volksdramas“, ist nicht etwa der machtgierige, sukzessive dem Wahnsinn verfallende titelgebende Zar, und auch nicht sein revolutionärer Gegenspieler Grigorij alias Dimitrij, der vermeintliche wahre Thronfolger. Es ist das Volk, das den Intrigen, Macht-, Ränkespielen und Kriegstreibereien von Politik, Religion und Staatsapparat schonungslos ausgeliefert ist. Entsprechend stark liegt der Fokus auch musikalisch auf dem stimmgewaltigen Chor, der sich gleich zu Beginn in seiner vollen Stärke samt Kinderchor grandios präsentiert, gehüllt in die vielfältig-bunte, traditionelle und doch zeitlose Kostümpracht von Adriana Braga Peretzki.
Die von Castorf bewusst gesetzte Statik, mit der der Chor als ferngelenktes, fremdbestimmtes Volk vor allem in der Eröffnungsszene quasi roboterartig gen Publikum singt, wird von Videoprojektionen auf einer Leinwand kompensiert, die das wohl auffälligste regietechnische Stilmittel des Abends bilden und die die gesamte Inszenierung immer wieder durchziehen sollen; teilweise um spieltechnische Details sowie eine stärkere Psychologisierung der Figuren zu erzielen, teilweise um hintergründige Handlungsstränge zu erzählen.
Der schaurig entsetzte Ausdruck des Wahnsinns
Ersteres gelingt durch mehrere im Bühnenraum verteilte Kameras, die den Betrachter mittels live auf Leinwand übertragener Nahaufnahmen mitten ins Bühnengeschehen hineinziehen und eine eindrucksvolle Nähe zur emotionalen Welt der Protagonisten ermöglichen. So charakterisieren sich die Figuren hier nicht nur durch offensichtliche Gestik und Taten, sondern auch durch dezente Mimik und gekonntes Minenspiel.
Der schaurig entsetzte Ausdruck des Wahnsinns etwa auf dem Gesicht des durch Mord zur Macht gelangten Boris Godunow (Alexander Tsymbalyuk) hinterläßt in Großaufnahme ebenso bleibenden Eindruck wie die sterile Visage des kaltblütig agierenden Intriganten Schuiskij (Matthias Klink) oder die bedeutungsschweren Blicke des grimmigen Chronisten Pimen (Vitalij Kowaljow) im Halbdunkel seines kargen Mönchsgemachs.
Schlichtweg eine Reizüberflutung
Während hierbei die Ablenkungsgefahr vom „echten“ Bühnengeschehen durch die ledigliche Dopplung desselben noch verkraftbar ist, bringt die parallele Erzählung hintergründiger Handlungsstränge auf Leinwand eine deutlich größere Problematik mit sich: Mussorgski hatte seinen „Boris Godunow“ mehrfach überarbeitet. Frank Castorf entschied sich bei seiner Inszenierung für den 1870 vollendeten „Ur-Boris“, der mit etwas über zwei Stunden Aufführungsdauer deutlich kürzer ist als die um mehrere Szenen erweiterten späteren Fassungen.
Inhalte jener späteren Szenen wurden nun via Projektionen, teilweise mit Untertiteln ins Geschehen eingeflochten. Zum einen macht dies die ohnehin nicht ganz leicht überschaubare Handlung des „Boris Godunow“ nicht gerade verständlicher, zum anderen muss ein des Russischen nicht mächtiger Betrachter somit mitunter gleichzeitig auf Musik und Gesang hören, die Übertitel lesen, dem Bühnengeschehen folgen, der Videoprojektion ebenso und dort auch nochmal Untertitel lesen – schlichtweg eine Reizüberflutung.
Opulent ausgestaltetes Bühnenbild
Allemal beeindruckend und opulent ausgestaltet ist allerdings das Bühnenbild von Aleksandar Denić, das die Möglichkeiten einer Drehbühne vielfältig ausreizt und jedem Schauplatz der Sowjetgeschichte das passende Flair bietet: Im archaisch-orthodoxen Gotteshaus aus rotem Holz mit goldenem Zwiebelturm nimmt die Idee des jungen Mönchs Grigorij, sich als rechtmäßiger Zar auszugeben, ihren Anfang. Beim Gesöff in einer kalt-atmosphärischen Kneipe schmeckt das frisch gezapfte Bier deutlich besser als der snobbig-westliche Baristakaffee.
Die Rückseite eines großen Gebäudes im Stil des Sozialistischen Klassizismus entpuppt sich als gewaltiges U-Boot, in dessen Innern sich das dekadente Diktatorenzimmer mit militärtaktischen Bildschirmen à la „War Games“ befindet. Hier wird im Szenario des Kalten Krieges mit dem Schicksal der Welt gespielt wie mit den Kugeln auf dem soziroten Billardtisch. Auch das gewaltige Originalplakat mit dem CCCP-Kosmonauten und der Aufschrift „Gott gibt es nicht!“, das für hellen Aufruhr beim vom Hunger geplagten Volk und der Kirchenanhängerschaft sorgt, will hier erwähnt sein.
Der Fokus liegt in „Boris Godunow“ auf den männlichen Stimmfächern
Ein Manko der Urfassung von „Boris Godunow“ war seinerzeit das Fehlen einer weiblichen Hauptrolle. Bis auf drei weibliche Nebenrollen liegt der gesangliche Fokus dementsprechend auch in Hamburg auf den männlichen Stimmfächern. Der Ukrainier Alexander Tsymbalyuk zeigt in der Titelpartie einen eindringlichen, vielseitigen Bass und gibt die von Machtgier und paranoider Reue geplagte Herrscherautorität mehr als glaubwürdig.
Tenor Dovlet Nurgeldiyev ist als Grigorij bzw. falscher Dimitrij ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt und zeichnet den egomanen Catfish-Charakter mit angemessen jugendlicher Leichtsinnigkeit, während beim ukrainischen Bass Vitalij Kowaljow jeder Ton durch alterserfahrene Schwere sitzt. Matthias Klinks Tenor gab sich mitunter etwas wacklig, er wirkte als ominöser Fürst Schuiskij vor allem durch seine sinistre Ausstrahlung.
Recht harmlose Pointe
Wie die Sängerschaft samt Chor halten auch Kent Nagano und das Philharmonische Staatsorchester das musikalische Niveau des Abends durchweg hoch. Mussorgskis geschichtsträchtige, von ferner russischer Vergangenheit malende Noten werden mit archaischer Kraft verlesen und schon die ersten verheißungsvollen, volkstümlichen Töne der Fagottmelodie verdeutlichen: Hier wird eine große Geschichte aus alten Zeiten erzählt. Castorf wiederum erzählt mit einiger Umständlichkeit die Geschichte eines Herrschers, der an seiner eigenen Macht zugrunde geht und mit dessen Ende auch eine ganze Ära endet, die von einem neuen Zeitalter mit Coca-Cola statt Hammer und Sichel abgelöst wird. Aus heutiger Sicht mag dies vielleicht eine doch recht harmlose Pointe sein.
Hamburgische Staatsoper
Mussorgski: Boris Godunow
Kent Nagano (Leitung), Frank Castorf (Regie), Aleksandar Denić (Bühne), Adriana Braga Peretzki (Kostüme), Rainer Casper (Licht), Andreas Deinert, Severin Renke, Jens Crull & Maryvonne Riedelsheimer (Video), Eberhard Friedrich (Chor), Alexander Tsymbalyuk, Kady Evanyshyn, Olivia Boen, Renate Spingler, Matthias Klink, Alexey Bogdanchikov, Vitalij Kowaljow, Dovlet Nurgeldiyev, Ryan Speedo Green, Jürgen Sacher, Marta Świderska, Florian Panzieri, Hubert Kowalczyk, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Extrachor der Hamburgischen Staatsoper, Alsterspatzen – Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg