Der Lack ist ab im Hause Klytämnestras. Eine gewesene Grandezza umgibt das mutmaßliche Wiener-Gründerzeit-Ringstraßen-Palais, das denn doch einige Patina angesetzt hat. Ein standesgemäßer Kronleuchter ziert die Decke des Salons längst nicht mehr – jetzt muss halt eine schlichte Glühlampe reichen. Auch die mit Büchern und ollen Schallplatten gefüllten Schrankwände wirken arg verkramt. Reisekoffer sind in den oberen Regaletagen gelagert. Muss man befürchten, dass es doch bald zum Kriege kommen könnte? Und man die Stadt dann tunlichst verlassen sollte? Eine Fin de Siècle-Gestimmtheit des Abschiednehmens liegt über der Szenerie. Darüber spricht man aber in diesen pseudofeinen Kreisen lieber nicht, doch statt zu schweigen, wird gekichert. Die Tassen klirren beim Kaffeekranz von Klytämnestra und ihrem Hofstaat. Mägde sollen es laut Libretto des Hugo von Hofmannsthal sein, Damen der Gesellschaft sind es in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, der mit einem Augenzwinkern in seine erste Regiearbeit einer Oper von Richard Strauss einsteigt.
Tragödie mit operettiger Kurzweil
In diese „Tragödie in einem Aufzuge“ führt der Russe im eigenen Einheitsbühnenbild also mit einer fast operettigen Kurzweil ein, die seine „Elektra“, die Uraufführung war 1909, indirekt mit „Der Rosenkavalier“ kurzzuschließen scheint, der ja nur zwei Jahre später das Licht der Opernwelt erblickte. Man wünscht sich hernach insgeheim, der in Berlin wie Bayreuth gefragte Regiestar würde sich auch die „Komödie für Musik“ bald einmal vorknöpfen – dann womöglich mit dem umgekehrten Einsatz der Mittel und der umgekehrten Erkenntnis, dass in jeder guten Komödie eigentlich eine tiefe Tragödie steckt.
Von den Abgründen der Wiener Wohlerzogenheit
Das Lachen vergeht freilich nicht nur Klytämnestras Kaffeekranz-Damen alsbald. Es bleibt auch dem Publikum im Halse stecken. Denn den Umweg der Überzeichnung geht Tcherniakov ja absolut bewusst, um in den Kern des Werks vorzudringen. Und der findet sich nach genauer Lektüre des Textes. Hofmannsthal wusste schließlich, was hinter der Fassade der spätaristokratisch bürgerlichen Wiener Wohlerzogenheit seiner Zeit lauerte: der Abgrund. Das Wien jener Wendezeit war ein Bordell, in das man im Gehrock spazierte. Der Kindesmissbrauch im guten Hause wurde nicht nur praktiziert und mit Schweigen ummantelt, er wurde endlich auch medial aufgedeckt. Das las und wusste der Psychoanalytiker Sigmund Freud ebenso wie der Dichter Hugo von Hofmannsthal. Letzterer schrieb es in seine Lesart des Sophokles ein. Seine „Elektra“ war kein Abglanz der Antike, sie wurde zum Spiegel seiner Zeit. Ja, die Titelfigur ist Opfer inzestiösen Missbrauchs. Das steht so im Libretto, wird nur meist nicht gesungen, die üblichen Strichfassungen sehen es zur Schonung der Sängerin wie jener des Publikums vor. Die über Generationen tradierten Rachegelüste der unseligen Familie sind schließlich schlimm genug.
Eine Frau ist Kind geblieben
Wer aber die Elektra als Missbrauchsopfer zeigt, der muss starke berührende Bilder wagen. Tcherniakov traut sich einen Krimi-Realismus, der von der ersten bis zur letzten Minute fesselt und der Hamburgischen Staatsoper einen Triumph beschert. Krasse Konsequenz seiner Lesart: Elektra konnte nie vom Kind zur ihre Sexualität positiv begreifenden und lebenden Frau heranreifen. Sie bleibt ein gleichsam geschlechtsloses knabenhaftes Wesen, das in ritualhaft wiederholten Zwangshandlungen die Vergangenheit beschwört, will sagen: ihren von der Mutter und ihrem Geliebten ermordeten Vater in ihr Leben zurückholt. Aus einem Pappkarton holt sie die Kleidung ihres Vaters hervor und fügt sie auf dem Esstisch gleich einem Fetisch zu dessen einstiger Gestalt zusammen. Dann schmückt sie den imaginierten Körper gar zwanghaft mit roten Rosen. Und sie fügt Pferdchen und Hündchen aus Kindertagen in großer Zahl auf diesen Altar der Kindheit. Ob das inflationäre Geschenk von Spielzeug einst den Missbrauch begleitete und erträglich machen sollte?
Die Doppelbödigkeit des Librettos enthüllt
Aušriné Stundyté ist eine unfasslich intensive Sängerdarstellerin, die mit ihrem drahtigen Körper das neue Rollenverständnis ideal beglaubigt und auch mit den stimmlichen Erwartungen einer Strauss-Heldin bricht. Sie fesselt nicht durch hochdramatisch herausgeschleuderte Soprantöne, sondern durch eine sensible Fokussierung einer gerade nicht genuin großen Strauss-Stimme. Letztere besitzt indes Violeta Urmana, die ihre Klytämnestra auf des Messers Schneide zwischen scharfer Deklamation und schöner Gesangslinie auspendelt. Sie legt zudem einen mutigen Auftritt als Alzheimer-Kranke im Frühstadium hin, kippt sich beim Frühstück immer wieder Zucker in den Kaffee. Das Kurzzeitgedächtnis funktioniert eben nicht mehr. Doch sie wird immer wacher, als ihr das endlich mal nicht störrische Knaben-Töchterchen die Linderung ihrer Alpträume verspricht.
Im sanft spießigen Faltenrock gibt Jennifer Holloway eine hoch sympathische, sopranblühende Chrysothemis, die das Elend der Familie durch die erfüllende Mutterrolle erträglich machen will. Feinfühlig und die Doppelbödigkeit des Librettos enthüllend deutet der Regisseur Elektras lesbische Anwandlungen gegenüber ihrer Schwester an. Dass Bariton Lauri Vasar als Orest den kalten Killer geben muss und am Ende als Serienmörder entlarvt wird, entspricht dem Horrorfilm-Realismus der Inszenierung, ist freilich eine unnötige Regie-Zutat.
Ein neues Inszenierungs-Juwel
Kent Nagano schärft als musikalischer Hausherr die moderne Lesart, fährt das Philharmonische Staatsorchester indes zu selbst bei Strauss ungewohnten Lautstärkepegeln hoch. Die schleichenden, weit geatmeten Übergänge eines Barenboim oder Thielemann sind seine Sache nicht. Dafür erntet der Dirigent am Ende mehr Widerspruch als der Regisseur, der die alte Everding-Produktion durch ein neues, ganz kluges Inszenierungs-Juwel an der Dammtorstraße ersetzt.
Hamburgische Staatsoper
Strauss: Elektra
Kent Nagano (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüm), Gleb Filshtinsky (Licht), Violeta Urmana, Aušriné Stundyté, Jennifer Holloway, John Daszak, Lauri Vasar, Brigitte Hahn u.a.