Ein bunter Rausch, skurrile Begegnungen, Verlust von Raum- und Zeitgefüge. Es ist ein bisschen wie die Reise in den Kaninchenbau aus der berühmten Lewis-Carrol-Geschichte, in der die junge Alice die bizarren Abenteuer des wunderlichen Wunderlands bestehen muss. E. T. A. Hoffmann war Carrol mit seiner Erzählung „Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“ allerdings fünfzig Jahre voraus; ein Schriftstück, das nicht nur seinerzeit Jacques Offenbach, sondern nun auch dem Hamburger Komponisten Johannes Harneit als inspirative Vorlage diente.
Thematisch passend läutet man also das neue Opernjahr 2023 in der Hansestadt mit der Uraufführung von „Silvesternacht“ ein, das Ganze in der intimen, publikumsnahen Atmosphäre der opera stabile. Hier begegnen wir Enthus, dem leicht abgerissenen, ewig reisenden Enthusiasten, der gerade auf der Silvesterparty des Innenministers erscheint.
Irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit
Ein Kronleuchter auf Rollen, ein altes Piano und eine Torte mit der glitzernden Jahreszahl 1815 darauf vermitteln die Illusion einer zeitlichen Einordnung des Geschehens, nämlich die Entstehungszeit von Hoffmanns literarischer Vorlage, die zu schreiben er tatsächlich in der Nacht zum Jahreswechsel zwischen 1814 und 1815 begonnen hatte. Die typisch fein-gediegene Biedermeier-Mode, die von der ausgelassen feiernden Salongesellschaft getragen wird, verstärkt dieses Gefühl. Kleine Details allerdings, etwa eine neuzeitliche Sitzbank oder ein moderner Getränkekühlschrank (der im Laufe des Abends zudem mitunter als Percussioninstrument herhalten muss) lassen immer wieder erahnen, dass hier nichts so ist, wie es zunächst scheint – ein Prinzip, das die Grundlage des gesamten Werks bilden soll.
Enthus begegnet auf dem Fest seiner ehemaligen Geliebten Angela, deren Verlust er nie überwunden hat. Er beschließt verzweifelt, sie zurückzuerobern und beginnt sich zu betrinken; grandios glaubhaft gespielt und gesungen von Bariton Nicholas Mogg, der sich auch den enormen Tonsprüngen in Harneits Partitur gekonnt entgegenstellt. Als er feststellt, dass Angela nichts mehr von ihm wissen will und mittlerweile sogar mit einem anderen Mann verheiratet ist, verliert er die Nerven, gerät randalierend in Rage und stürmt aus dem Saal hinaus in die Nacht. Es beginnt ein Trip durch verschiedene Sphären, irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit.
Tiefe atmosphärische Bilder
Regisseur Mart van Berckel und Bühnenbildnerin Vera Selhorst übertragen die Verwobenheit der Ebenen im Stück auch auf das äußere Bild der Inszenierung. Bühnenraum und -technik sind offen sichtbar, es mutet, auch durch die spezielle Personenregie, bewusst zum Teil an wie bei einer Probe, sodass sich das Bühnengeschehen als gespieltes Theaterstück in der Realität verankert. Zugleich jedoch wird man eingesogen in die tiefen atmosphärischen Bilder, die immer wieder entstehen und die Nacktheit des Drumherums vergessen lassen.
Nach einer faustischen Kellerkneipenszene, die zeitgleich via Filmkamera auf eine Großbildleinwand übertragen wird und in der Enthus seinen Alter Egos, einem Schattenlosen (mit dem gelungen rüde verkörperten Tenor von Peter Galliard) und einem Spiegelbildlosen (dem wunderbar schmachtend getriebenen Florian Panzieri) begegnet, gelangt er schließlich in ein Hotelzimmer.
Absinthuöse (Alb)Traumsequenz
Den dritten und vierten Teil der Hoffmann’schen Erzählvorlage hat Librettistin Lis Arends hier in eine neunteilige, absinthuöse (Alb)Traumsequenz zusammengefasst, die in wirren, zusammenfließenden, schnell wechselnden, taumelnden Bildern die Parallelgeschichte des Spiegelbildlosen Doppelgängers von Enthus erzählt, der seine Silvesternacht im wilden Amerika feiert, jedoch nach und nach alles verliert, was er hat. Sein Spiegelbild opfert er schließlich seiner Angebeteten Angela bzw. Angie, die nicht nur durch die eindrucks- und fantasievoll gestalteten, üppigen Kostüme von MAISON the FAUX, sondern auch durch den spitz-neckischen Mezzosopran von Ida Aldrian eine brisante Erscheinung abgibt. Ebenso der trügerisch-umgarnende Bass Tigran Martirossian als allgegenwärtiger, teuflischer Anywhere.
Musikalische Verballhornung bekannter Themen
Dem kleinen, privateren, kammermusikalischen Rahmen entsprechend – wobei das Stück mit über zwei Stunden ohne Pause eine ganz schöne Länge aufweist – ist die instrumentale Besetzung des Werks überschaubar gehalten: Sieben Musikerinnen und Musiker sind einmal um den Bühnenbereich herum verteilt, darunter auch Komponist Johannes Harneit selbst, der die Celesta bedient. Seine Musik widerspiegelt das illusionistische, realitätsverzerrende Moment des Stücks mit flirrend flickernden, teils witzelnden Klängen, meist jedoch durch die musikalische Verballhornung bekannter Themen und Muster. Das fängt an bei einer später von Mozart in der „Zauberflöte“ kopierten Clementi-Sonate (auf der Bühne von Robert Jacob als mit Federboa geschmückter Salonlöwe und Starpianist Luigi Berger wild gespielt) und gipfelt mit schräger Romantik in der verzerrten Barcarole aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach, die dieser ja eigentlich ursprünglich für seine „Rheinnixen“ komponiert hatte – selbst in den musikalischen Zitaten und Anspielungen ist nichts so, wie es scheint.
Wo und wie genau diese „Silvesternacht“ stilistisch einzuordnen ist, lässt sich wohl nicht wirklich bestimmen, denn am Ende weiß niemand genau, was wirklich ist und was bloß Schein. Ob es dadurch jedoch ein Werk ist, das nichts sein soll und dadurch alles ist oder umgekehrt, kann jeder für sich selbst bestimmen.
Hamburgische Staatsoper
Harneit: Silvesternacht (UA)
Johannes Harneit (Leitung), Mart van Berckel (Regie), Vera Selhorst (Bühne & Licht), MAISON the FAUX (Kostüme), Marie-Dominique Ryckmanns, Ida Aldrian, Nicholas Mogg, Daniel Kluge, Peter Galliard, Tigran Martirossian, Gabriele Rossmanith, Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg