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Ballett-Kritik: Hamburgische Staatsoper – The Times Are Racing

Zurück in die Zukunft

(Hamburg, 28.9.2024) Demis Volpi, frisch inthronisierter Ballettintendant des Hamburg Balletts, gab seinen vielversprechenden Einstand mit einem vierteiligen Abend.

vonMonika Nellissen,

„Und dann kam John“. Eine Feststellung, retrospektiv, voller Respekt, die die Markierung einer neuen Zeit bedeutete, einer Ära, die ein halbes Jahrhundert lang das Hamburg Ballett prägen sollte. John Neumeier hieß der Heilsbringer, der 1973 als Ballettchef die Compagnie an der Hamburgischen Staatsoper übernahm, sie radikal nach seinen Wünschen formte, damit Hamburgs Ballettomanen gewaltig gegen sich aufbrachte und sie letztlich im Sturm eroberte.

Demis Volpi tritt in die riesige Fußstapfen John Neumeiers – ohne Scheu, dennoch voller Respekt, Selbstbewusstsein und mit uneitler Noblesse

Die Ära John Neumeier ist abgeschlossen, Demis Volpi, der Deutsch-Argentinier, ist in Neumeiers riesige Fußstapfen getreten. Ohne Scheu, dennoch voller Respekt, Selbstbewusstsein und mit uneitler Noblesse hat er am Sonnabend an der Staatsoper mit einem vierteiligen Programm, „The Times Are Racing“, seinen Einstand gegeben, der einen Streifzug durch die Tanzgeschichte der letzten 50 Jahre mit Signaturstücken dreier Choreographen vorstellte und einem eigenen Werk, das in die Zukunft weist.

Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper
Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper

Ein Entree, das vier Tanzstile und Handschriften würdigte und eines sehr deutlich machte: Die Mutter all dieser Werke ist, um es salopp auszudrücken, die klassische Technik. Tänzer, die bestens darin ausgebildet wurden, können alles tanzen. Den Beweis trat wieder einmal das Hamburg Ballett an, das phänomenal den gestellten Aufgaben gerecht wurde, so heterogen sie auch waren, weil ihre Basis die Klassik ist.

Pina Bausch: Zeitreise über ein halbes Jahrhundert Tanzgeschichte

Mit dem „Adagio“ der Tanzpionierin Pina Bausch eröffnete Volpi den Abend. Ein Stück, 1974 in Wuppertal uraufgeführt, zu Beginn also der Ära des Wuppertaler Tanztheaters, vor 50 Jahren, als auch John Neumeier die Hamburger Bühne betrat. Auf fünf Lieder von Gustav Mahler hatte Pina Bausch ihre Choreographie geschaffen, die seltsamerweise seit ihrer Uraufführung nie wieder zu sehen war. Sie mag heute ein wenig aus der Zeit gefallen sein, aber keineswegs altmodisch ist sie und weist unübersehbar auf das hin, was damals sozusagen in der Luft lag und von John Neumeier, Hans van Manen und auch Demis Volpi aufgegriffen wurde und wird.

Es sind Begegnungen von Menschen, die einander zugetan sind, die sich abstoßen, wieder zusammenfinden, Schicksale, die sich, nie verhetzt oder in krass abgezirkelten Bewegungen positionieren, bei allem Kontrast eine enorme Ruhe ausstrahlen, trotz rasend kreiselnder Bewegungen, Hebefiguren und Rennereien. Diese Rekonstruktion durch die ehemalige Bausch-Tänzerin Joe Ann Endicott ist eine Entdeckung, die die Zeitreise über ein halbes Jahrhundert Tanzgeschichte sinnfällig eröffnete und sie als Wegbereiterin für Generationen von Choreographen ausweist.

Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper
Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper

Hans van Manen: überwältigend zeitlose, künstlerische Unantastbarkeit

Ganz anders Hans van Manen. Der unangefochtene Großmeister eines radikal vereinfachten, dennoch sinnlichen, auch humorvollen Stils, lässt in geradezu sophistischer, wenngleich virtuoser Manier, zwei Tanzpaare in „Variations for Two Couples“ miteinander konkurrieren. Er ist eine höchst lebendige Legende, der sich mit 92 Jahren vor dem Hamburger Publikum verbeugte. Fantastisch, wie sich die beiden Tanzpaare dem Stil van Manens hingaben, wobei das Paar Madoka Sugai und Alexandr Trusch mit seinem beherzten Zugriff dem Paar Ida Praetorius und Matias Oberlin deutlich überlegen war.

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Van Manen hat seine Choreographie 2012 auf Musik von Benjamin Britten, über Einojuhani Rautavaara bis Johann Sebastian Bach und Astor Piazzolla geschaffen. Sie ist bis heute von überwältigend zeitloser, künstlerischer Unantastbarkeit.

Demis Volpi: ein großartiger Erzähler

Nicht auftrumpfend, sondern bescheiden hat Demis Volpi seine Choreographie von 2023 „The thing with feathers“ auf ein Gedicht von Emily Dickinson zwischen die Werke von Bausch und van Manen gesetzt. Auf die „Metamorphosen“ von Richard Strauss sind ihm wundervoll atmosphärische tänzerische Momentaufnahmen gelungen mit großartigen Pas de deux und fantastischen Einzelleistungen, die einen dennoch im Augenblick noch etwas ratlos zurücklassen, aber sehr gespannt machen auf sein abendfüllendes

Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper
Szenenbild aus „The Times Are Racing“ an der Hamburgischen Staatsoper

Ballett „Demian“ auf Hermann Hesses Roman, das am 19. Juli 2025 an der Staatsoper uraufgeführt wird. Volpi ist ein großartiger Erzähler. Das muss und wird er in „Demian“ beweisen.

Justin Peck: der Broadway lässt grüßen

Als rasanten Rausschmeißer hat Volpi Justin Pecks hoch komplexen, virtuosen, bisweilen tollkühnen tänzerischen Ritt durch eine individualistische, auf Freiheit bedachte Gesellschaft choreographiert, die auch hier, trotz seiner Rasanz, die klassische Technik zur Grundlage hat. Der Broadway lässt grüßen auf Dean Deacons Album America. Großartig.

Vatali Alekseenok war der sensibel, gleichwohl zupackend die Philharmoniker begleitende Dirigent. Der Jubel war groß und einhellig. Fast so wie zu John Neumeiers Zeiten. Die Ära Demis Volpi hat vielversprechend begonnen.

Hamburgische Staatsoper
Bausch/Manen/Volpi/Peck: The Times Are Racing

Vitali Alekseenok (Leitung), Pina Bausch, Hans van Manen, Demis Volpi und Justin Peck (Choreographie),Hamburg Ballett,Philharmonisches Staatsorchester Hamburg






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