Im Mittelalter war die Hölle los. Gar nicht gestrig scheint die Epoche, in der sich kriegerische Auseinandersetzungen, hohe Kindersterblichkeit und niedrige Lebenserwartung paarten mit dem Carpe diem von kaum gezügelter Wollust, von Fressen und Trinken und Glücksspiel. Carl Orffs Vertonung originaler Texte aus dem 11. und 12. Jahrhundert, verfasst in Vulgärlatein, Mittelhochdeutsch und Altfranzösisch (die den genannten Themen durchwegs deutlich huldigen) sucht die direkte Nähe zu den musikalischen Merkmalen der alten Zeit: Stampfende Tanzrhythmen, Kirchentonarten und eingängige Melodien sorgten denn auch zur Entstehungszeit der „Carmina Burana“ 1935 und 36 für weitgehende Akzeptanz bei den deutschen Machthabern – der eindeutig enthemmten Erotik in Worten und Tönen zum Trotz. Der Auftrag einer szenischen Umsetzung im Großen Haus der Hamburgischen Staatsoper an Calixto Bieito schien nun insofern als zwingend sinnstiftend, als der Katalane ja immer noch für einen berechenbaren Skandal gut ist.
Die Bieito-Methode: Entfesselte Sängerdarsteller
Anfang der 2000er Jahre hatte er die bis dato eher sittenstrenge Staatsoper Hannover mit physisch extrem harten Verdi-Deutungen aufgemischt. Heute hat Bieito seinen Markenkern perfektioniert und zur Methode verfeinert: Regelmäßig entfesselt er seine Sängerdarsteller in ihrer Körperlichkeit, die es dann mitunter gar wagen, die eigene Nacktheit auf der Bühne zu zeigen.
Die überbordende Fantasie des Regisseurs erfährt dazu in den jüngsten Inszenierungen – etwa Schostakowitsch‘ „Lady Macbeth von Mzensk“ in Genf – eine gewisse Einhegung durch die Formgebung seiner Produktionsdramaturgin Bettina Auer, die immer wieder dafür zu sorgen scheint, dass sich des Regisseurs kreative Ideen mit den Werken dienenden Konzepten verbinden. Sein Zyklus mit russischem Repertoire am Grand Théâtre de Genève hatte zuletzt eine packende Dichte.
Ein echtes Traumpaar aus Sopranistin und Tenor
In Hamburg galt es nun, die zum Mitsingen und Mittanzen inspirierenden „Carmina Burana“ mit Orffs „Catulli Carmina“ und „Trionfo di Afrodite“ abzurunden. Der Komponist fasste die 1943 bzw. 1953 nachkomponierten Teile mit „Carmina Burana“ zum „Trittico teatrale“ zusammen, dachte durchaus auch an szenische Aufführungen des Triptychons, die freilich bislang die Ausnahme blieben.
Der Abend startet mit dem Wettstreit liebestoller junger Menschen mit meckernden Greisen, denen die Erfahrung gelehrt hat, dass es ewige Liebe nur in Gedichten gibt. Nicole Chevalier als Lesbia und Oleksy Palchykov als Catullus singspielen das Paar schlichtweg grandios. Der Tenor lässt die Sopranistin aus dem auf die Bühne gezogenen Konzertflügel schlüpfen, um mit ihr Freud und Leid der Liebe weidlich auszukosten.
Berührende musikalische Qualität
Zuvor deklinierte der Chor das Thema durch – Lieben im Kollektiv. Während die Damen ihre Ewigkeitsschwüre verkünden, werden sie von den Herren verlacht. Eine alte Tänzerin verkörpert trefflich die Vanitas. Berührend wirkt Teil 1 im besonderen durch die enorme musikalische Qualität. Denn der Chor der Liatoshynski Capella aus dem ukrainischen Kyiv sorgt für Vokalweltklasse in puncto homogener Stimmpracht und Disziplin.
Und Kent Nagano macht aus der eigentlich einfach gestrickten Musik durch seine subtile Klarheit magische Momente. Man meint, der Amerikaner dirigiere Carl Orff mit dem Wissen um die Minimal Music. Rhythmisch Repetitives darf eben keine einfache Wiederholung sein. Die Positionierung des Orchesters auf einem Podest auf der Hinterbühne sorgt für große Direktheit. Assistenzdirigenten vermitteln die Gesten des GMD an die vor ihm positionierten Sängerinnen und Sänger.
Ritus und Religion treffen auf erotische Ekstase
Im folgenden „Trionfo di Afrodite“ legt Calixto Bieito dann eine Schippe drauf. Ritus und Religion treffen auf erotische Ekstase. Dazu verquirlen Regisseur und Dramaturgin ihr Wissen aus der Kulturgeschichte zu einem Orgien-Spektakel der Gegenwart. Das Blut aus dem Abendmahlskelch dient der sexuellen Initiation. Einen in einer Vitrine ausgestellten jesusähnlich gestikulierenden Nackten schmieren die uns bekannten Liebenden mit Theaterblut ein, was der dann auch wuchtig singende Basso corifeo (Cody Quattlebaum) sogar zu genießen scheint.
Die in Brautkleidern gewandeten Chordamen setzen rote Äpfel der Ursünde auf den Bühnenboden. Die solistischen Vertreter von Sposa und Sposo, die wir aus Teil 1 kennen, singen orgasmische Melismen und zerschmeißen weiße Teller zum Polterabend. Adam und Eva als altes Ehepaar geigen sich in die Ewigkeit. Ja, Bieitos Drastik hat Methode. Sie soll vermutlich verstören und fesseln. Doch hinterlässt sie – allfällige Queerness wird natürlich auch ausgestellt – in ihrer Vorhersagbarkeit doch auf Dauer eher Langeweile als maximierte musiktheatralische Spannung.
Wenn Blut sich in Wein verwandelt
Nach der Pause folgen die „Carmina Burana“. Und das Spektakel nimmt seinen Lauf. Das Blut aus dem „Trionfo“ hat sich nun in Wein gewandelt. Eine wilde Weinschlacht des nun um den Chor der Staatsoper und die Komparserie eindrucksvoll erweiterten Kollektivs überstehen die Premierengäste in den vorderen Parkettreihen unbeschadet nur dank vorsorglich verteilter Plastikplanen. Das Suhlen in roter Suppe macht Freude. Bariton Cody Quattlebaum wird von Chordamen umgarnt wie der reine Thor Parsifal von den Blumenmädchen. Man feiert Frühling. Der Bariton als Saufbruder-Abt animiert vollends zum Gelage, übergibt sich zwischendrin auch mal, um wieder neue Kapazitäten für den Weingenuss zu gewinnen. Der geschmeidig intonierende Countertenor Jake Arditti lässt sich dazu köstlich als gebratener Schwan verspeisen.
Die lyrisch schmelzende Sopranistin Sandra Hamaoui muss im Finale ihren schönen Busen zeigen. Zum Schlussapplaus schenkt Calixto Bieito dem Publikum ganz versöhnlich mit beiden Händen ein Herz als Zeichen der Liebe. Doch glaubt der Künstler überhaupt an sie? Der Abend entlässt uns in seiner überbordenden Unrast mit vielen Fragezeichen. Wir bewundern, wie der Regisseur noch jeden Kleindarsteller und jedes Chormitglied groß macht, wie er Individuen aus der Gruppe hervortreten lässt – und damit nicht zuletzt Orffs einheitliche Volksgemeinschaft aufbricht. Doch eine Haltung jenseits der Desillusionierung in Liebesdingen, ja, eine Stringenz des Erzählens fehlen diesen „Trionfi“, für die es am Ende viel Applaus und wenige Buhs gibt.
Hamburgische Staatsoper
Orff: Trionfi
Kent Nagano (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühne), Anja Rabes (Kostüm), Michael Bauer (Licht), Sarah Derendinger (Video), Eberhard Friedrich, Bogdan Plish, Luiz de Godoy (Chor), Bettina Auer (Dramaturgie), Nicole Chevalier, Sandra Hamaoui, Oleksy Palchykov, Jake Arditti, Cody Quattlebaum, Chor der Liatoshynski Capella, Kyiv, Ukraine, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Hamburger Knabenchor, Alsterspatzen – Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg