Künstliche Intelligenz, Transhumanismus, Singularität, Human Brain Project – und immer wieder Google-Entwicklungschef Ray Kurzweil. Der Amerikaner gehört zu den bekanntesten Vordenkern des Transhumanismus und prognostiziert für das Jahr 2045 den Zustand der Singularität: Dann wäre die Trennung zwischen Mensch und Maschine aufgehoben, und wir würden uns durch computerbasierte Technologien in ein gemeinsames Datennetz speisen. Wir wären unsterblich. Der Tod stellt momentan also nur noch ein technisches Problem dar.
Die Aufklärung als Lebenskonzept
Doch wollen wir das? Wie wollen wir überhaupt leben? Kant erklärte die Aufklärung zur ewig fortlaufenden Aufgabe der Menschen. Sie soll nicht bloß eine Epoche sein, sondern ein Lebenskonzept. Dazu gehört auch, dass wir Veränderungen als Chance sehen und nicht als Bedrohung. An diese Gedanken knüpft der Heidelberger Frühling an. Das Festival sieht Kunst und Kultur als wichtige Faktoren, um gesellschaftliche Veränderungen zu begreifen. Mit einem Blick in die Zukunft beendet es damit seine thematische Trilogie rund um den Kerngedanken der Aufklärung.
Die Idee zu „Castor&&Pollux“ entstand 2017 im festivaleigenen „LAB“, wo junge kreative Köpfe der Kulturszene gemeinsam über die Zukunft des Konzerts nachdenken. Es sei das größte und aufwendigste Projekt, das der Heidelberger Frühling je realisiert habe. Im Mittelpunkt des multimedialen Musiktheaters stehen die zentralen Aspekte des menschlichen Daseins: Liebe und Trauer, Leben und Tod. Es vereint Musik aus Jean-Philippe Rameaus Tragédie en musique „Castor et Pollux“ mit einer Neukomposition von Lukas Rehm. Videos auf Bildschirmen und einer großen Leinwand zeigen eindrückliche, teils verstörende Bildwelten mit Interviewsequenzen zu den Zukunftsprognosen von Ray Kurzweil.
Filzpantoffeln ersetzen High Heels
Die Erwartungen sind hoch: Würde das multimediale Feuerwerk zünden? Vor dem ersten Blick in den Saal heißt es zunächst: Schuhe prüfen. Denn der extra installierte massive Gitterboden ist nicht kompatibel mit hohen Absätzen. Ein Stand neben dem Eingang hält dafür aber extra Filzpantoffeln für die Besucher bereit.
Die Alte Aula mit ihrer schweren dunklen Holztäfelung wurde in ein „4DSOUND“-Raumklangsystem verwandelt. Von der Decke herab wachen die vier Musen. Barocke Architektur trifft auf große Lautsprecheranlagen, die durch ihre Säulenform jedoch nicht wuchtig, sondern eher wie die filigranen Überreste eines griechischen Tempels wirken. Die Bühne ist ein raumfüllendes begehbares Instrument, das über künstliche Intelligenz die Live-Klänge in Echtzeit verändert. Für den barocken Sound sorgen ein junges Sängerensemble sowie die Rossetti Players, die ein Solistenensemble sowohl für Alte als auch Neue Musik sind.
Es gibt keine nummerierten Sitzplätze, sondern nur zwei Kategorien: fest und mobil. Besucher der letzten Kategorie suchen sich auf dem Gitterkonstrukt einen Platz auf den locker verteilten Holzbalken. Ziellos wandeln bereits die Sänger auf der Bühne umher. Auf ihren Gesichtern kleben schwarze Markierungspunkte, wie sie von Gesichtserkennungs-Software verwendet wird. Sie sind in fließende, futuristisch anmutende Stoffbahnen gehüllt, deren Muster sich auch auf den Oberteilen der Rossetti Players wiederfindet. Die Stoffe wurden eigens mit Sequenzen aus den Videos bedruckt.
Wechselspiel zwischen Rameau und Elektronik
Was nun folgt, ist ein Wechselspiel zwischen Rameaus Musik und Elektronik. Teilweise gehen die Klänge ineinander über, und so scheint es, als würde der Klang nicht einfach verhallen, sondern von der Cloud aufgesogen: Der Klang schwebt ins Netz und wird für immer konserviert, also unsterblich. Auf den Bildschirmen und der großen Leinwand hinter dem Instrumentalensemble fliegen wir durch die verschneite Walliser Alpenlandschaft, begegnen anmutigen Schwänen und einem tollkühnen Reiter. Eine Anspielung an das letzte Abendmahl wird gezeigt. Diesmal scheint es jedoch vielmehr die Henkersmahlzeit der gesamten Menschheit zu sein, die nun langsam in die Maschinenwelt hinübergleitet. Es werden Autoreifen tranchiert und mit Motoröl serviert. Den Videomenschen scheint das nicht zu passen. Sie zertrümmern das Bankett in seine Einzelteile – oder haben sie sich etwa gerade selbst digitalisiert?
Die Zukunft liegt gar nicht so weit entfernt: In Heidelberg ist mit der Forschungsplattform „Neuromorphic Computing“ ein Ableger des Human Brain Projects, eines der größten EU-Forschungsprojekte, beheimatet. Ziel des Projekts ist, das gesamte Wissen über das menschliche Gehirn zusammenfassen und mittels Simulationen und Computerarchitekturen nachbilden.
Das Publikum steht unter Strom
Immer wieder wird die Musik jäh von den live transformierten elektronischen Blöcken unterbrochen – oder gar übernommen und vervollkommnet? Die Vibrationen der Bässe gehen durch und durch. Vom Holz werden sie direkt in den Körper geleitet. Man scheint regelrecht unter Strom zu stehen. Dabei weiß man gar nicht so genau, wo man zuerst hinschauen soll – und doch entsteht nie das Gefühl, irgendetwas zu verpassen.
Dem Mythos nach war Pollux als Sohn des Zeus unsterblich, sein Bruder Castor hingegen sterblich. Als das Unvermeidliche passiert und Castor stirbt, bleibt Pollux allein zurück. Zeus, als übermächtiger „Deus ex Machina“, lässt sich schließlich umstimmen und setzt die Brüder als Sterne für alle Zeiten gemeinsam an den Himmel. In Heidelberg sind Castor und Pollux omnipräsent. Jeder ist Castor, jeder ist Pollux. Alle sind alles. Schließlich skandiert das Gesangsensemble gemeinsam: „Ich bin Castor.“ Dennoch verkörpert Jussi Juola mit seinem vollen, tiefen Bass einen eindrucksvollen Pollux, der dank Vollbart und langen Haaren eine durchaus stattliche Figur abgibt und wie ein Gegenstück zum glattrasierten Andrés Montilla-Acurero mit seinem geschmeidigen Tenor wirkt.
Dann ist das Publikum auf den mobilen Sitzplätzen gefragt: Es soll sich bewegen. Doch nicht alle machen von dieser ungewohnten Freiheit gebrauch, obwohl die harten Holz-Sitzbalken durchaus zu einem kurzen Spaziergang einladen. Was genau dieses Wandeln bewirken soll, wird nicht ganz klar. Zumindest ist es unkonventionell und vereint gewissermaßen zwei (Konzert-)Welten miteinander.
Schöne neue Göttlichkeit
In „Castor&&Pollux“ werden zwei Mythen miteinander verwoben: Aus der griechischen Antike und der futuristischen Utopie des Transhumanismus, die sich mit der Vision der menschlichen Unsterblichkeit auseinandersetzt. In seiner Tragédie en musique „Castor et Pollux“ zeichnet Jean-Philippe Rameau eine neue, durch den Deus ex Machina hervorgerufene Gemeinschaft: Menschen, Götter, Planeten und Intelligenzen feiern gemeinsam den Einzug der beiden Brüder am Himmelszelt in der finalen Feier des Universums. Ray Kurzweil prophezeit: „Wenn wir die gesamte Materie und Energie des Weltalls mit unserer Intelligenz gesättigt haben, wird das Universum erwachen, bewusst werden – und über phantastische Intelligenz verfügen. Das kommt, denke ich, Gott schon ziemlich nahe.“
Bis es soweit ist, können wir uns weiterhin mit den irdischen Freuden begnügen – wie der Musik. Für diesen Genuss sorgen an diesem Abend vor allem die überaus engagiert spielenden Rossetti Players. 80 Minuten lang ist das Publikum extrem aufmerksam. Es gibt weder Huster noch Holzknarren. Ein weiterer musikalischer Glanzpunkt ist das bezaubernde Duett von Sarah Matousek und Natalie Peréz. „Qu‘ Hébé de fleurs“ – aus ewig frischen Blumengebinden soll Hébé Euch ewige Ketten winden. In rot getauchtes Licht besingen sie in vollkommener Harmonie die griechische Göttin der Jugend, kurz nachdem Castor und Pollux am Sternenhimmel für immer vereint sind.
Heidelberger Frühling
Castor&&Pollux
Lukas Rehm (Musik, Video & Konzept), Lisa Charlotte Friederich (Libretto, Regie & Konzept), Jim Igor Kallenberg (Dramaturgie & Konzept), Natalie Pérez & Sarah Matousek (Dessus), Andrés Montilla-Acurero & Jószef Gál (Haute-Contre), Camilo Delgado Díaz & Hansol Choi (Taille), Simon Noah Langenegger & Jussi Juola (Basse), The Rossetti Players