An den Anfang seiner Inszenierung von Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ in Wiesbaden setzt Regisseur Martin G. Berger eine kleine Rechenaufgabe. Auf den Übertiteltafeln und auch auf einer Leinwand über dem Bungalow, den Alexandre Corazzaola auf die Bühne gesetzt hat, ist bei geöffnetem Vorhang schon vor Beginn zu lesen: „Alle sieben Jahre feiert der Unternehmer Daland eine große Piratenparty. Auf dem Fest vor einundzwanzig Jahren verließ ihn seine Frau und nahm die damals vierzehnjährige Tochter Senta mit.
Heute kehrt diese erstmals nach Hause zurück.“ Soll heißen: Hier ist die Tochter, die Daland in der Oper auf eins zwei an seine Zufallsbekanntschaft auf See verschachert, schon 35 Jahre alt. Außerdem lernen wir vermutlich das erste Mal in der Rezeptionsgeschichte von Wagners vorrevolutionärem, ersten bayreuthwürdigen Wurf aus dem Jahre 1843 die vom dichtenden Komponisten unterschlagene Frau Mama kennen. Zumindest in den Rückblende-Videos von Vincent Stefan, die immer wieder aufflackern und die Szene überblenden.
Dalands Piratenparty
Während man sich noch wundert, dass Daland schon daheim ist (wo er doch eigentlich erst erwartet wird), seine Tochter aber schon jahrelang nicht dort war und sich darauf gefasst macht, dass das wohl keine gradlinige Geschichte, sondern eine vom Seegang der Interpreten-Ambitionen durchgeschüttelte Version werden dürfte, füllt sich die Bühne nach und nach mit den angekündigten Partygästen. Für die hat Esther Bialas tief in die Kiste der Piratenkostümklischees gegriffen und ihrer Fantasie freien Lauf gelassen. Opulente Kostümierung zum nüchternen Unternehmerbungalow ist auch mal schön. Dass die anreisende Senta in Jeans hier demonstrativ die Piraten-Kostümierung verweigert und auch ihr Partner Erik in Freizeitzivil anrückt, kann man sich noch leicht als Ausdruck einer Vater-Tochter-Beziehungskiste deuten, wie sie in den besten Familien vorkommt. Warum das so ist, erfahren wir nach und nach.
Sentas Trauma: ein väterlicher Missbrauchsversuch
In den ersten Szenen fällt vor allem der Brauch auf, der sich zwischen der Behauptung der Rahmenhandlung und der dann doch, sozusagen neben der Party, relativ gradlinig erzählten Geschichte ergibt. Hier rumpelt zwar kein Bühnenumbau, aber der Gang durch die Geschichte, der holpert merklich. Nach und nach freilich kommen bei Senta die Erinnerungen an jenes eingangs behauptete Fest vor 21 Jahren hoch. Im Video sehen wir erst angedeutet und dann ziemlich klar, was da passiert sein muss und was Frau Daland zusammen mit ihrer Tochter aus dem Haus getrieben hat. Es war ein Übergriff des Vaters auf die Tochter, bei dem die Mutter dazwischen ging und beherzt die Konsequenzen zog.
Was dann einsetzte, war wohl eine Verdrängung bei Senta und bei ihrem Vater. Bei ihm führte das zur Etablierung der Piratenparty, bei der man sich u.a. einen historischen „Holländer“-Film anschaut. In der Psyche des Mädchens spaltete sich vom Vater jener sagenhafte, geheimnisvolle Fremde ab. Die Begegnung mit ihm, der auf der Bühne immer mehr mit dem Vater verschmilzt, ist die Konfrontationstherapie, mit der sie jetzt ihrem Kindheitstrauma zu begegnen versucht. Sie muss am Ende keinen der beiden Männergestalten erschießen. Die verschwinden, sobald das damals Geschehene offenkundig geworden ist. Senta steht am Ende – so gekleidet wie damals als Mädchen – umringt von vielen anderen jungen Alter Egos befreit an der Rampe.
Was hinter einer Biedermannfassade so alles lauern kann
Das ist zwar eine andere Art von Erlösung, als sie Wagner erzählt, aber am Ende kriegt Berger für sein Thesentheater doch eine szenische Punktlandung hin, die für sich genommen funktioniert. Auch wenn diesmal nicht der Holländer der Verfluchte ist, sondern nur eine Projektion bzw. Therapiehilfe. Ein Sympathieträger war Daland ja nie – wer schon seine Tochter einfach so verkauft, kann das nicht sein. Berger hat das auf die Spitze getrieben. In der aktuellen Bayreuther „Holländer“-Inszenierung von Dmitri Tcherniakov war Daland ja schon für den Missbrauch und Selbstmord der Mutter des fliegenden Holländers verantwortlich gemacht worden. Berger fügt dem in Wiesbaden noch eine weitere dunkle Seite hinzu. Wer hätte das gedacht, was hinter einer Biedermannfassade so alles lauern kann! Und auch, wie er damit bislang durchkommen konnte.
Eine stürmisch beherzte musikalische Lesart des neue GMD Lea McFall
Musikalisch geht es beim neuen Wiesbadener GMD Leo McFall und dem Hessischen Staatsorchester Wiesbaden mindestens beherzt, oft aber auch stürmisch zur Sache. Der finnische Bariton Tommi Hakala und der koreanische Bass Young Doo Park verkörpern mit raumgreifender vokaler Pracht und opulent kostümierter Spielfreude hier auch im zum Teil synchronen Zusammenspiel die beiden Seiten von Sentas Problemvater. Dorothea Herbert ist eine Senta, die vokal kraftvoll auftrumpfen kann, aber zugleich auch differenziert die Zerrissenheit ihrer Figur beglaubigt. Bei Aaron Cawley wäre etwas weniger Tenorpower mehr Erik-Leidenschaft gewesen, Ariana Lucas ist als Frau Mary vor allem die quicklebendige Party-Managerin. Lukas Schmidt ist ein eher lyrischer Steuermann, der es nicht leicht hat im Sturm der Klänge und gegen die Wucht der von Albert Horne einstudierten Chormassen, die obendrein auch mit ihrer szenischen Präsenz überzeugen. Der Beifall war einhellig, wenn auch nicht überschwänglich – das Regieteam kriegte erwartungsgemäß auch Buhs ab.
Hessisches Staatstheater Wiesbaden
Wagner: Der fliegende Holländer
Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie), Bühne: Alexandre Corazzola (Bühne), Kostüme: Esther Bialas (Kostüme), Video: Vincent Stefan (Video), Licht: Klaus Krauspenhaar (Licht), Chor: Albert Horne (Chor), Dramaturgie: Katja Leclerc (Dramaturgie), Tommi Hakala, Young Doo Park, Dorothea Herbert, Aaron Cawley, Ariana Lucas, Lukas Schmidt, Chor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Extrachor des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden, Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden
So., 26. Januar 2025 18:00 Uhr
Musiktheater
Wagner: Der fliegende Holländer
Anthony Clark Evans (Der Holländer), Young Doo Park (Daland), Dorothea Herbert (Senta), Aaron Cawley (Erik), Ariana Lucas (Mary), Lukas Schmidt (Steuermann), Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie)
Sa., 01. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wagner: Der fliegende Holländer
Anthony Clark Evans (Der Holländer), Young Doo Park (Daland), Dorothea Herbert (Senta), Aaron Cawley (Erik), Ariana Lucas (Mary), Lukas Schmidt (Steuermann), Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie)
Mi., 05. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wagner: Der fliegende Holländer
Anthony Clark Evans (Der Holländer), Young Doo Park (Daland), Dorothea Herbert (Senta), Aaron Cawley (Erik), Ariana Lucas (Mary), Lukas Schmidt (Steuermann), Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie)
Sa., 15. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wagner: Der fliegende Holländer
Anthony Clark Evans (Der Holländer), Young Doo Park (Daland), Dorothea Herbert (Senta), Aaron Cawley (Erik), Ariana Lucas (Mary), Lukas Schmidt (Steuermann), Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie)
Fr., 28. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wagner: Der fliegende Holländer
Anthony Clark Evans (Der Holländer), Young Doo Park (Daland), Dorothea Herbert (Senta), Aaron Cawley (Erik), Ariana Lucas (Mary), Lukas Schmidt (Steuermann), Leo McFall (Leitung), Martin G. Berger (Regie)