Für Alessandro de Marchi schließt sich der Kreis mit „L’Olimpiade“. Giovanni Battista Pergolesis Vertonung des Librettos von Pietro Metastasio war der Auftakt des Dirigenten und Cembalisten zur künstlerischen Leitung der Innsbrucker Festwochen der Alten Musik anno 2010. Mit „(L‘)Olimpiade“ als Beginn einer Trias von Vivaldi-Produktionen beendet de Marchi diesen Sommer nach vierzehn Jahren seine Direktionszeit und überlässt seinem Nachfolger Ottavio Dantone ein glänzend aufgestelltes Festival. Vivaldis „La fida ninfa“ als Beitrag von Barockoper Jung und das bekannte Oratorium „Juditha triumphans“ mit der österreichischen Mezzosopranistin Sophie Rennert folgen bis zum Finale mit dem Konzert „Lieto fine“ am 29. August.
Führende Interpreten singen und spielen bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Es gastieren Spitzenensembles mit spannenden Entdeckungen wie am 18. August mit Tommaso Traettas Oratorium „Rex Salomon“. De Marchi, der auch ein spitzfindiger Belcanto-Interpret ist, dehnte das Alte-Musik-Festival in Richtung des 19. Jahrhunderts mit einer Fassung von Mozarts „La clemenza di Tito“ für das Wiener Hoftheater am Kärntnertor (1804) und Saverio Mercadantes „Didone abbandonata“ (1823). Mit dem Cesti-Gesangswettbewerb findet im Rahmen der Innsbrucker Festwochen eine wichtige Talentschmiede für Barockgesang statt.
Schönes Tohuwabohu: Sportoper und Nostalgie
Man kann die Entscheidung für Vivaldis „(L‘)Olimpiade“ durchaus aus mehreren Perspektiven betrachten: Als dramatischen Sport, virtuoses Wetteifern und emotionalen Sprint. In Bartolomeo Vitturis Bearbeitung des originalen Metastasio-Librettos für die 1734 im Teatro Sant‘ Angelo von Venedig uraufgeführte Oper geht es um menschliche Verwicklungen bei den Olympischen Spielen in antiker Vorzeit. Der sportive Drive befindet sich vor allem im Drama, seinem Anlass und deren empfindsamen wie politisch brisanten Zuspitzungen.
Die Handlung frei nach Herodot gibt einiges her. Wenn dann auch noch amouröse Eskapaden über Kreuz die gültigen Liebschaften temporär durcheinanderwirbeln, fällt reichlich Stoff für alle Arien-Muster an. Nach dem sechsten oder siebten Arienjuwel Vivaldis erkennt man außerdem, dass das gesamte Werk ein großartiger Wurf ist. Als Hauptschauplatz setzte Emanuele Sinisi eine realistische Turnhalle mit Gerätschaften aus Holz und Leder. Im Grunde passiert alles zu Befürchtende – außer Doping und sexuelle Gewalt.
Faschismus als Dekoration
Dass die Festwochen-Dramaturgie über die erste Wiederaufführung 1939 bei der Musikwoche Siena in Italien unter Mussolini etwas leichtfertig hinwegging, vergisst man fast im betörenden Bernsteinleuchten der Musik. Stefano Viziolis Regie zeigt szenisches Feingefühl und beflügelt mit diesem in hoher Schwingungsdichte die souveräne musikalische Leitung Alessandro de Marchis. Dramatisches Chaos verdünnt zu sympathischer Ironie und empathischer Sensibilität. Anna Maria Heinreich setzte die berühmten drei Streifen eines weltbekannten deutschen Sporttextilien-Herstellers auf das Kleid der Königstochter Aristea. Deren Freundin-Rivalin Argene ist natürlich keine Hirtin in Verkleidung, sondern mit schwarzem Kostüm und roten Haaren die Angehörige einer verfolgten Minderheit.
Solche Details flankieren die Begebenheiten in der hellenischen High Society. Etwa, wenn Argene ihrem liebeskrankem Herzen Luft macht und der zum Sportfunktionär umgepolte Prinzen-Erzieher Aminta sich während dieser Beichte mit gelangweilter Gelassenheit eine Zigarette ansteckt. Oder wenn sich König Clistene von einem Groupie-Duo umturteln lässt und die beiden besten Freunde Licida und Megacle wegen besserer Ergebnischancen unter vertauschten Namen bei den Wettkämpfen antreten.
Musikalischer Hochglanz und Gipfeltreffen der Counterstimmen
Dazu liefern de Marchi und das Festspielorchester einen bezwingenden Weichmacher-Sound unter der Führung von Streichern, Harfe und Theorbe. Für die männlich konnotierten Instrumente Oboe, Fagott und Hörner gibt es nur fünf Positionen. Musikalische Fluidität und dramatischer Drive ergänzen sich bei diesen olympischen Erzählungen.
Als Freundespaar mit Prinzenerzieher trat eine Elite von Counterstimmen an. Bejun Mehta ist als Licida mit gesanglicher Rationalität bestens überlegt, fein austariert und fast trocken. Ein Prinz mit Erfahrung und stilistischer Klasse. Raffaele Pé als Magacle genießt – zumindest macht es hier den Eindruck – die Auftritte als Vollblutsportler und -sänger, setzt eine ideale Synthese aushöhensicherem Testosteron und Amphetamin-Stößen. Dazu außer Konkurrenz bewegt sich der brasilianische Koloratursopranist Bruno de Sá als Aminta – im späteren Verlauf nicht nur tanzend, sondern auch mit einer unerwarteten und desto erstaunlicheren Kondition auftrumpfend. Ein traumhaftes Trio sich ergänzender Vokalfarben und charakterstarker Temperamente.
Paradiesfarben und Riesenjubel
Als flüchtige Dame Argene gehören Benedetta Mazzucato mindestens zwei von Vivaldis Arienjuwelen. So modelliert sie – keineswegs melancholisch oder säuerlich – eine auch in Extremsituationen zu ihren Gefühlen stehende Leidende. Eine Spur differenzierter noch gerät die olympische Brautbeute Aristea durch Margherita Maria Sala, eine ambivalente und deshalb sympathische Persönlichkeit. Salas Stimme: Ladylike, gurrend, lockend und Koloraturen zu Konversationen modellierend.
Luigi De Donato fügt als Alcandro und wichtigster Barock-Bass des Festivals einen weiteren Glanzpunkt zu seiner beachtlich intensiven Präsenz bei den Festwochen. Christian Senn macht aus Clistene einen König, der sich musikalisch beglückend zu seinen kleinen und größeren Schwächen bekennt. Trotz menschlich explosiver Verwicklungen also viele Paradiesfarben und deshalb nach Ende ein Riesenjubel.
Innsbrucker Festwochen der Alten Musik
Vivaldi: L’Olimpiade
Alessandro De Marchi (Leitung), Stefano Vizioli (Regie), Emanuele Sinisi (Bühne), Anna Maria Heinreich (Kostüme), Elena Camoletto (Chor), Benedetta Mazzucato, Bruno de Sá, Margherita Maria Sala, Bejun Mehta, Raffaele Pe, Christian Senn, Luigi De Donato, Coro Maghini, Innsbrucker Festwochenorchester