Um einen Neustart nach einer so prägenden Intendanz wie der von Barrie Koksy an der Komischen Oper glaubhaft zu machen, musste sich dessen Nachfolgerduo Susanne Moser und Philip Bröking schon etwas besonderes einfallen lassen. Luigi Nonos zwar schon 60 Jahre altes, aber immer noch unter dem Label Neue Musik firmierende „szenische Handlung in zwei Teilen“ mit dem Titel „Intolleranza 1960“ ist dafür schon mal ein deutliches Statement. Vor allem als Kontrast zu dem sinnlichen Monteverdi-Festival, mit dem sich Kosky seinerzeit eingeführt hat. Dennoch sollte man bei all dem folgenden Operettenfuror nicht vergessen, dass es er eben auch „Moses und Aaron“, „Die Nase“ und „The Bassarids“ auf die Bühne seines Hauses gebracht hat.
In dieser radikalen Variante von Raumbühne ist die vierte Wand verschwunden.
Im Falle des bekanntesten Bühnenwerkes von Arnold Schönbergs Schwiegersohn Luigi Nono (1924-1990) haben der Dortmunder GMD Gabriel Feltz, Marco Štorman (Regie), Morton Agh (Bühne) und Sarah Schwartz (Kostüme) jetzt aber nicht einfach ein aktualisiert bebildertes Katastrophenspektakel abgeliefert. Sie konfrontieren die Besucher mit einer verblüffend radikalen Variante von Raumbühne. Dabei ist nicht nur die sogenannte vierte Wand verschwunden, auch sonst bleibt nahezu nichts an seinem angestammten Platz. Das plüschige Haus ist zu einer Eiswüste geworden. Wobei von echtem Eis vor allem die Farbe, ein angedeutetes Verdampfen und ein paar installierte Wassertümpel theaterkompatibel nachempfunden worden sind. Wenn man einen Platz erwischt hat, von dem aus man das Geschehen auf der großen Eisfläche nur aus der Froschperspektive verfolgen kann, lässt sich das Wasser nur ahnen oder beim Aufspritzen sehen. Im Zuschauerraum sind die Reihen ausgebaut und durch diese (optische) Kunsteiswüste als Hauptspielfläche ersetzt. An deren Rändern gibt es einige Ausbuchtungen für Zuschauer, die wie Schluchten ins imaginäre Eis gehauen sind. Die (nur) dort für die Zuschauer bereit liegenden weißen Umhänge sollen wohl für die in den beiden ersten Rängen und auf der riesigen Tribüne auf der Bühne platzierten Teil des Publikums den Eindruck einer weißen Eiswüste verstärken bzw. nicht stören. Auch die Brüstungen der ersten beiden Ränge sind mit weißen Tüchern wolkig verhängt. Ebenso die zu einer selbstleuchtenden Wolke drapierte Beleuchtung in der Mitte der Saaldecke.
Wird die Musik im Himmel gemacht?
Ein damit kontrastierender Effekt entsteht, wenn man zum Orchester hinaufblickt, das den zweiten Rang für sich okkupiert hat und von dem Dirigenten in einer vorgebauten Kanzel mit großer Umsicht geleitet wird. Hier kommen nämlich die Engel und Figuren der üppigen Innenarchitektur der Komischen Oper zu ungeahnter Ehre — man hat fast den geradezu verstörend irritierenden Eindruck, dass die Musik, die die Kuppel perfekt und flutend in den Saal reflektiert, im Himmel gemacht wird. In diese gleich in mehrfacher Hinsicht künstliche Welt wird das übersetzt, was Luigi Nono einst aus den Verwerfungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts in seinem politisch bekennerhaften Stück verarbeitet hat.
Eintauchen in eine atmosphärische Dystopie
Im Zentrum steht der Emigrant. Sean Panikkar ist mit der Rolle bestens vertraut und gestaltet sie mit all ihren vokalen Sprüngen grandios. Dieser Emigrant will nicht von seiner Heimat weg, sondern aus einer düsteren Bergarbeiterexistenz zurück nach Hause. Auf dem Weg dorthin erlebt er alles mögliche — von politischen Unruhen, Gefangenschaft und Folter bis zu einer auch für ihn tödlichen großen Flut. All das wird nicht zu einer Stichwortvorgabe, um auf der Hand liegende Aktualisierungen von Flüchtlings- und Klimakrise, von Verfolgung und Gewalt zu bebildern. Hier wird versucht, in eine darüber liegende atmosphärische Dystopie einzutauchen, die sich eben nicht erneut der wieder und wieder genutzten Bilder vor allem der Gewalt bedient. Der Emigrant trifft auf seinem Weg einen Algerier (Tom Erik Lie), der ihm eine rätselhafte Lampe überreicht. Er begegnet einer Frau (Deniz Uzun), deren blutrot gefärbtes weißes Tuch nichts Gutes ahnen lässt. Und er trifft seine schwarzgefiederte Gefährtin (Gloria Rehm) – gesungen wird das durchweg großartig.
Humanistische Botschaft
In die Gegenwart erweitert wird das Stück durch den kurzen Essay „Es ist genug“, den die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels des Jahres 2016, Carolin Emcke, verfasst hat und den Ilse Ritter, die sich als hinzuerfundener Engel der Geschichte ins Eis verirrt zu haben scheint, staunend und raunend vorträgt. „Es gibt keine Voraussetzungen dafür, als Mensch geachtet zu werden. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.“ So lauten die beiden letzten Sätze des im Programmheft abgedruckten humanistisch aufrüttelnden Textes. Wenn der Emigrant ein morsches Boot in die Mitte des Raumes bugsiert und herzurichten versucht, und schließlich die weiß gekleideten, von David Cavelius fabelhaft einstudierten Choristen (die Chorsolisten der Komischen Oper Berlin werden verstärkt durch Vocalconsort Berlin) dieses Boot stürmen, erinnert das sowohl an das Floß der Medusa als auch an die Flüchtlinge, die damit die Fahrt übers Mittelmeer nicht überleben würden. Alles in allem ist der Abend ein musikalisch exzellentes, höchst eindrucksvolles Mitdenktheater, das in der Überhöhung zwar alles platt Agitierende zu vermeiden trachtet, aber damit auch eine so verbleibende Distanz zu seiner Botschaft und der Entstehungszeit einkalkuliert.
Komische Oper Berlin
Nono: Intolleranza 1960
Gabriel Feltz (Leitung), Marco Štorman (Regie), Marton Agh (Bühne), Sara Schwarz (Kostüme), David Covelius (Chor), Olaf Freese (Licht), Sean Panikkar, Gloria Rehm, Deniz Uzun, Tom Erik Lie, Tijl Faveyts, Josefine Mindus, Ilse Ritter, Orchester der Komischen Oper Berlin, Chorsolisten der Komischen Oper, Vocalconsort Berlin