Die Aufführungsserien häufen sich: Hans Werner Henzes „The Bassarids“, ein Auftragswerk für die Salzburger Festspiele 1966, ist neben Schönbergs „Moses und Aron“ die wohl bedeutendste Musiktheater-Partitur des 20. Jahrhunderts über Sinnsuche und ekstatische Entfesselung der Massen. Erst lange nach der Uraufführung wurde dem Komponisten klar, dass es sein wichtigster und persönlich tiefster Beitrag zur Kunstform Oper wurde.
Anarchie und Zerstörung
Im Zuschauerraum der Komischen Oper Berlin blieb es eindringliche 135 Minuten hell. „There’s no way to hide!“ – keine Chance, der durch zivilisatorische Prozesse nur schwach gebändigten Animalität zu entkommen! Blutbeschmiert presst Agave die Eingeweide des von ihr selbst zerfleischten Sohnes Pentheus an sich. Es gibt nur ganz wenige intime Momente in dieser Oper, die im Umfeld der 68er-Bewegung den Weg einer Gesellschaft von einem hierarchisch gesteuerten System in Anarchie und hedonistisch entfesselte Zerstörungswut darstellte. Euripides‘ Tragödie „Die Bakchen“ ist eines der rätselhaftesten und deshalb heute faszinierendsten altgriechischen Dramen. Wystan Hugh Auden und Chester Kallman verknappten dieses in englischer Sprache mit dunkler, vieldeutiger Poesie für Henzes Musikdrama, das eigentlich eine ins Riesenhafte getürmte viersätzige Vokalsinfonie mit Intermezzo ist. Im Mythos entstammt Pentheus wie der nicht minder glücklose Oedipus der verwinkelten Genese und Verzweigung des thebanischen Königshauses. Die enorme Fallhöhe ist vorhersehbar, das Schicksal grausam.
Sucht nach den Müttern
Pentheus‘ anarchischer Gegner ist Dionysus, der erst zum Gott werden und dafür die Traumata seiner menschlichen Herkunft abstreifen muss. Das geht nur durch Rache und Blut. Mit ineinander verschmolzenen Gesichtern stehen Pentheus und der Fremde, der sich später als Lust- und Qualenspender Dionysus zu erkennen gibt, eng Körper an Körper. Kuss oder Biss? Schon in der Mitte der Oper hat der Politiker Pentheus den Kampf gegen den neuen, einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Konsens außer Kraft setzenden Kult des charismatisch-fremdartigen Eindringlings verloren. Auch der zweigeschlechtliche blinde Seher Teiresias (Ivan Turšić) versagt. Bei ihm und allen brennen die mentalen Sicherungen durch, die Architektur der Gesellschaft kollabiert. Pentheus, von Dionysus dazu bewogen, sucht in Barrie Koskys Inszenierung nicht nur eine andere Identität, sondern vor allem die radikale Verschmelzung mit der Erscheinung seiner Mutter Agave, die in ihm also auch ihre eigene Persona vernichtet. Am Ende ist Dionysus, der Gott des orgiastischen und vernichtenden Rausches, alleiniger Sieger.
Orchester als dramatischer Akteur
Obwohl man an der Komischen Oper Berlin Henzes reduzierte Fassung von 1992 spielt, gibt es im Orchestergraben kaum einen freien Kubikzentimeter. Auf dem weißen, die gesamte Bühnenfläche und -höhe nützenden Treppenaufbau von Katrin Lea Tag wird die Arbeit an der Klangerzeugung zum theatralen und sogar zum räumlichen Ereignis, wenn der in beschwörender körperlicher Ruhe agierende Sean Panikkar zur ihn begleitenden Gitarre aus der Tiefe des zweiten Rangs singt. Der Chor sitzt auf den Stufen und bildet zu Beginn einen mechanischen Organismus. Hinter ihm schwirrt das versatile Tanzensemble wie Elektronen um einen Zellkern. Vladimir Jurowski macht Henzes lockend lodernde Musik zur treibenden, unwiderstehlichen, soghaften Kraft der Aufführung. Orchester und Chöre steigern sich zu einer Sternstunde.
Abgründiger Ästhetizismus
Barrie Kosky verfährt mit den Massen derart strukturiert, dass Exzess, Ekstase und Destruktion als zwangsläufige, ja automatische Notwendigkeit erscheinen. Erst fasziniert dieser Kontrast zwischen dem musikalischen Oszillieren und der formstrengen Visualisierung. Doch dann, nach den ersten eindringlichen Szenen der Solisten, verliert sich die anfängliche Höchstspannkraft. Das liegt auch daran, dass Barrie Kosky die blitzschnellen Sprünge des Textbuchs zwischen animalischer Gier und ethischer Rhetorik, zwischen Brunft und Zote nicht immer in einer der Monumentalität des Bühnenraums angemessenen Form zueinander in Beziehung setzt. Die bizarre Leichtigkeit des Intermezzos stürzt ab in Beiläufigkeit, dionysisch-triebhafter Magnetismus erschöpft sich in nichtssagenden Posen. Dabei gibt es faszinierende Besetzungskonstellationen: Die von rubinroter Lava durchglühte und erst im grausamen Finale schmelzende Tanja Ariane Baumgartner als Agave, die unerhört präsente wie faszinierend strahlkräftige Vera-Lotte Boecker als Autonoe und Sean Panikkar als Dionysos waren schon in der „Bassariden“-Produktion der Salzburger Festspiele unter Kent Nagano dabei. Günter Papendell hält diesem hochklassigen Ensemble stand: Ein junger Mann mit großen Ideen und lyrisch pointiertem Bariton. Margarita Nekrasova ist eine starke Amme Beroe. Großartig auch die Chorsolisten und das Vocalconsort Berlin in der Einstudierung von David Cavelius: Es fasziniert, wie die Chormassen aus der Kollektivfron synchroner Bewegungen mit sich in Gewalt überschlagenden Energiewellen ausbrechen. Dieser Druck muss zwangsläufig in einer pansexuellen Erregungsklimax ohne soziale Korrektive eskalieren.
Vom unstillbaren Begehren nach einem Sein ohne Barrieren
Ästhetisierung und Abstrahierung bedingen sich in Koskys Lesart, die nur in dem aus der Erstaufführung in die Bearbeitung hinüber geretteten Intermezzo an Grenzen stößt. Diese lange Szene, in der Adonis zum Opfer eines Mords aus Eifersucht wird, bleibt auf einer burlesk verspielten Ebene und viel zu matt in dem verschlungenen Geflecht aus Begehren, Rache und Entgrenzung. Die durch den Innenraum mögliche, oft riesige Distanz und dann wieder körperlich bedrängende Nähe der Figuren stellt Henzes rauschhafter Musik, die Mahler-artige Paukeneinsätze und wagnernde Bassklarinetten-Läufe transformiert, das angemessen ausladende Raumpanorama gegenüber. Kosky und sein Choreograf Otto Pichler zeigen in deutlich gestaffelten Stadien den Schwellenabbau zwischen den Geschlechtern und das Verschwinden sexueller Dualismen. Aber in nur einer Inszenierung ist es schier unmöglich, die schillernde Themenvielfalt von Henzes „The Bassarids“ anzureißen, geschweige zu bewältigen. Dass es letztlich um das unstillbare Begehren nach einem Sein ohne Barrieren und die Lösung von den Müttern geht, erlebt man an der Komischen Oper Berlin mit kaltem Grauen, das Kosky aus bestechenden Bildern destilliert.
Komische Oper Berlin
Henze: The Bassarids
Vladimir Jurowski (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Katrin Lea Tag (Bühne & Kostüme), David Cavelius (Chor), Otto Pichler (Choreografie), Franck Evin (Licht), Sean Panikkar (Dionysus), Günter Papendell (Pentheus), Tanja Ariane Baumgartner (Agave), Margarita Nekrasova (Beroe), Vera-Lotte Boecker (Autonoe), Jens Larsen (Cadmus), Ivan Turšić (Tiresias), Tom Erik Lie (Captain of the Royal Guard), Chorsolisten der Komischen Oper Berlin, Vocalconsort Berlin, Tanzensemble, Orchester der Komischen Oper Berlin
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