BBB. Britten, Benjamin; Breth, Andrea und Brüssel, La Monnaie. Das passt gut zusammen. Auch in Pandemiezeiten für eine digitale Opernvariante. Noch dazu, wenn es sich um die Kammeroper des bedeutendsten britischen Komponisten des vorigen Jahrhunderts „The Turn of Screw“ handelt. Jenen prägnant und tonpassgenau durchkomponierten Psychothriller, der 1954 im La Fenice in Venedig Premiere hatte und für den Britten zusammen mit Autorin Myfanwy Piper eine Novelle von Henry James als Vorlage verwendete.
Die deutsche Regieikone Andrea Breth
Das Stück mit dem etwas umständlichen Titel hat sich, neben „Peter Grimes“, „Billy Budd“ oder „A Midsummer Night’s Dream“ selbstbewusst und prominent im Repertoire etabliert. Gerade ging in Hannover Immo Karamans Version über die Bildschirme, in Hagen bereitet Jochen Biganzoli die seinige vor. Jetzt also in Brüssel die deutsche Regieikone Andrea Breth mit einem erneuten Ausflug in die Oper.
Breths Blick hinter die Fassaden
„The Turn of the Screw“ ist ein Kammerspiel, für das diese Regisseurin ihren Hang zur Präzision ebenso in die Waagschale werfen kann wie die Fähigkeit, zum Blick hinter die Fassaden, in die Abgründe der menschlichen Natur. Dass das bei Andrea Breth und ihren Mitstreitern Raimund Orfeo Voigt (Bühne) und Carla Teti (Kostüme) auch in Brüssel rein optisch in dominierenden Grautönen daherkommt, ist bei ihr allemal eher Qualitätsmerkmal als metaphorische Kritik. Es ist die Geschichte von der Gouvernante, die von einem geheimnisvollen Auftraggeber auf das Landgut Bly engagiert wird, um sich dort den Kindern Flora und Miles anzunehmen. Die erste Irritation, nämlich die Bedingung, dass der Vormund der Kinder keinesfalls mit irgendwelchen Details behelligt werden will, weitet sich schnell in einen permanenten Alptraum für die junge Frau. Und in Begegnungen der unheimlichen Art. Vor allem mit Miss Jessel und Peter Quint, die durch die Geschichte geistern. Sie sind allgegenwärtig als bedrohliche Gespenster, die nach den Seelen und den Körpern der Kinder greifen.
Surrealistische Szenen wie auf den Bildern von René Magritte
Es geht lange vor dem etablierten gesellschaftlichen Diskurs über Missbrauch genau um die Traumata, die Übergriffe vielerlei Art bei Kindern anrichten. Dass die Welt aus den Fugen ist, wird augenfällig in drastischen Verschiebungen der Größenverhältnisse von Zimmern, Türen oder Kleiderschränken. In einem Konzertflügel ohne Füße, in der Aufhebung konkreter Räume, wenn sich plötzlich Zimmerfluchten öffnen und dort geheimnisvoll Männer mit Hüten starr in Zeitungen zu lesen scheinen. Surrealistische Szenen wie auf den Bildern von René Magritte.
Parteinahme für die bedrängten Kinder
Die Gouvernante und mit ihr der Zuschauer taucht ein in diese Welt, in der nichts wirklich im Lot ist. Und Peter Quint und Miss Jessel ziemlich real mitmischen, sich die großmütterlich wackere Haushälterin in ein exzessives Kartoffelschälen flüchtet, um sich gleichsam rauszuhalten. Und in der die Gouvernante entschlossen den Kampf aufnimmt gegen die Geister der Vergangenheit. Andrea Breth erzählt die Geschichte genau, aber ohne die wabernden Obsessionen in die Andeutung zu verbannen – sie verdeutlicht durch Personaleinsatz. Sie macht sichtbar, was die Kinder und dann bald auch sie zu sehen glauben, holt es zumindest ins Licht eines Halbdunkels, bei dem es zur Parteinahme für die bedrängten Kinder keine Alternative gibt.
Musikalische Imagination
Mit dem 13-köpfigen La Monnaie Chamber Orchestra setzt der Orchesterchef der l’Opéra de Rouen, Ben Glassberg, vor allem darauf, die unheimliche Stimmung glaubhaft musikalisch zu imaginieren, die auf der Bühne vorherrscht und in die uns eine auf dosierte Nahaufnahmen setzende Kameraführung immer wieder zieht. Sally Matthews setzt für die Gouvernante ihre lyrisch kraftvoll leuchtende Beredsamkeit voll ein und überzeugt auch mit ihrer intensiven Darstellung des Umgangs mit dem Unheimlichen. Carole Wilson ist mit vokaler Klarheit und einer Ausstrahlung zwischen Mitgefühl und eigener Angst die deutlich artikulierende Haushälterin Mrs. Grose.
Auf der dunklen Seite verkörpert Giselle Allen Miss Jessel. Julian Hubbard setzt ein erhebliches Maß von vokaler und darstellerischer Intensität ein, um einen Peter Quint zu verkörpern, bei dem schon der Anblick zum Ungemach gehört, für das er steht. Henri de Beauffort (vom Kinderchor des La Monnaie) ist mit überzeugender kindlicher Unschuld der von Quint bedrängte Miles und Katharina Bierweiler (vom Cantus Juvenum Karlsruhe) seine mit klarer Stimme betörende Schwester Flora.
Leider war diesmal die Qualität der Liveübertragung immer wieder mit kurzen Sprüngen oder auch mit Knistergeräuschen wie bei einem alten Plattenspieler „angereichert“. Aber das ist halt das Risiko der Technik, bei der solche Misshelligkeiten viele Ursachen haben können.
Das Streaming ist bis zum 6. Mai auf demunt.be verfügbar und wird ab dem 22. Mai auf mezzo.tv ausgestrahlt.
La Monnaie Brüssel
Britten: The Turn of the Screw
Ben Glassberg (Leitung), Andrea Breth (Regie), Raimund Orfeo Voigt (Bühne), Carla Teti (Kostüme), Alexander Koppelmann (Licht), Ed Lyon (Prolog), Sally Matthews (Gouvernante), Miles Henri de Beauffort, Katharina Bierweiler (Flora), Carole Wilson (Mrs. Grose), Julian Hubbard (Peter Quint), Giselle Allen (Miss Jessel), La Monnaie Chamber Orchestra