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Opern-Kritik: Landestheater Detmold – La fanciulla del West

Goldrausch im Teutoburger Wald, fast

(Detmold, 13.9.2024) Die musikalische Seite dieses fulminanten Wild West-Puccini ist beachtlich. Dazu räumt die Inszenierungen mit all den positiven wie negativen Vorurteilen auf – und schießt damit mitunter übers Ziel hinaus.

vonMichael Kaminski,

In der einstigen lippischen Residenzstadt grassiert der Wilde Westen. Zum Einstand der neuen Intendantin des Landestheater Detmold, Kirsten Uttendorf, gastieren dort gleichzeitig Buffalo Bills Cowboy-und-Indianer-Zirkus, ein wanderndes „Völkerschau“-Panoptikum und ein mit der Lynchjustiz im goldberauschten Kalifornien des Jahres 1858 aufwartendes Diorama. Nervenkitzel ohne Ende. Klischees vom Wilden Westen satt. Regisseur Kay Link serviert die Inflation an Schlüsselreizen, um eine Übersprungreaktion auszulösen, in der sich die ganze Fragwürdigkeit gängiger Vorurteile über die Pionierzeit tief im Westen der Vereinigten Staaten decouvriert.

So gebärden sich denn die Goldgräber nicht allein als zwischen Sentimentalität und Gewaltexzessen schwankende Meute, vielmehr als durch und durch rassistischer Mob, der den Hispano Ramerrez alias Dick Johnson hetzt, bis er mit der Schlinge um den Hals unterm Galgen steht. Eine zweite Ebene zieht Link ein, indem die Figuren immer wieder aus ihren Rollen für Zirkus, „Völkerschau“ und Diorama ins Zivilleben heraustreten, wo sie sich in der Betriebskantine von ihren Auftritten erholen. Zu dieser zeigt sich Minnies „Polka-Bar“ umfirmiert. Jedenfalls, bis sich Unterhaltungsindustrie und tatsächliches Leben der Schaustellenden und Artisten immer wieder bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen. Sie werden von den Klischees, die zu verkörpern ihr täglich Brot sichert, geradezu überwältigt.

Szenenbild zu „La fanciulla del West“
Szenenbild zu „La fanciulla del West“

Sinnvolle Operation am falschen Patienten

Links Sicht nimmt für sich ein. Mit positiven wie negativen Vorurteilen aufzuräumen, ist künstlerischer Kernauftrag. Zumal etwa Karl-May-Spiele von Bad Segeberg über das sauerländische Elspe bis hin nach Eging am See in Niederbayern sie – Groß und Klein prägend – nach wie vor vom Norden der Republik bis in deren Süden pflegen. Doch, ob Puccinis „Fanciulla“ das dazu adäquate Werk ist, steht auf einem anderen Blatt. Ohnehin konfrontiert es mit einem Naturalismus, der einem Leoncavallo oder Mascagni und – wenn nicht längst geschehen – selbst einem Gerhart Hauptmann die Haare zu Berge stehen lassen hätte.

Szenenbild zu „La fanciulla del West“
Szenenbild zu „La fanciulla del West“

Triebfedern der „Fanciulla“ sind nahezu hemmungslose Brutalität und sentimentalste Sehnsüchte von Schwerstarbeitenden in prekären Verhältnissen. Über den Zwiespalt suchen sich diese zum Mob Missratenen saufend und pokernd hinweg zu täuschen. Je nach Perspektive präsentiert sich hier die Kehrseite oder der Preis des American Dream. Rassismus gegenüber Latinos oder Indigenen wirkt dabei mit, ist aber kein Hauptaspekt. Mindestens im Blick auf die Indigenen suspendiert Link im Mittelakt denn auch seine Herangehensweise. Da restlos assimiliert, sind Wowkle und Billy als Indigene unkenntlich. Überhaupt gerät des Werkes Zentrum zum unfreiwilligen Widerspruch gegen das Konzept der Spielleitung: Der salto mortale in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts landet im optisch fraglos attraktiven Setting, bleibt indes unvermittelt. Wenn Link im Programmheft betont, er habe das Jahrzehnt wegen seiner Aufbruchstimmung und Toleranz gewählt, dann fragt man sich nach Sinn und Zweck der dramatisch ebenso atemberaubenden wie brutalen Pokerpartie um Johnsons Leben und Minnies Herz.

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Szenenbild zu „La fanciulla del West“
Szenenbild zu „La fanciulla del West“

Von derart Ungereimtem kaum beschadet, setzt sich freilich die couragierte „Polka“-Wirtin allemal durch. Link schildert Minnie als große Schwester der Goldgräberjungs. Einen jeden von ihnen weiß sie zu nehmen. Doch wie die meisten Geschwister geht sie einmal aus dem Haus. In ihrem Fall mit dem Mann ihrer Wahl. Für alles dies ersinnt Katrin Hieronimus eine Bühne, für deren Panoptikumsvitrinen und finales Diorama der fleißige Malsaal die bizarre Felsenlandschaft des Death Valley auf die Prospekte praktiziert hat. Jule Dohrn-van Rossums Kostüme mischen traditionelle Wildwest-Anmutung mit heutigem Einschlag. Zeitweilig steckt Johnson im Zorro-Dress, während die Dalton-Brüder aus „Lucky Luke“ dem Knast wieder einmal entsprungen sind, um sich nun als Goldgräber zu versuchen.

Szenenbild zu „La fanciulla del West“
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Puccini auf Pfaden von Debussy und Strauss

Die musikalische Seite der Detmolder „Fanciulla“ ist beachtlich. Die Herren von Chor und Extrachor des Hauses unter Francesco Damiani bewähren sich präzise und durchschlagskräftig. Im Lauf der Aufführungsserie wird sich die Dynamik noch verfeinern. Per-Otto Johansson lässt mit dem Symphonischen Orchester des Landestheaters durchhören, wie intensiv sich Puccini, während er an der „Fanciulla“ schrieb, mit „Pelléas et Mélisande“ und „Salome“ auseinandersetzte. Eleonore Marguerre ist Minnie. Spielerisch eine Wucht, gelingen Marguerre Punktlandungen auf den Spitzentönen. Ji-Woon Kim gibt einen grundsympathischen Dick Johnson. Für Rance bietet Jonah Spungin seinen ebenso tiefensatten wie höhensicheren Bariton auf – die Entdeckung des Abends. Stellvertretend für die vielen Solisten in den kleineren Partien sei der voller Wehmut den Barden Jake Wallace verkörpernde Euichan Jeong aus dem Detmolder Opernstudio genannt. 

Landestheater Detmold
Puccini: La Fanciulla del West

Per-Otto Johansson (Leitung), Kay Link (Regie), Katrin Hieronimus (Bühne), Jule Dohrn-van Rossum (Kostüme), Francesco Damiani (Chor), Carsten Lenauer (Licht), Nikolay Schröder (Video), Eleonore Marguerre, Jonah Spungin, Ji-Woon Kim, Stephen Chambers, Jaime Mondaca Galaz, Andreas Jören, Nikos Striezel, Florian Zanger, Andreas Elias Post, Yutap Gu, Lifan Yang, Bioh Jang, Torsten Lück, Hojin Chung, Franziska Pfalzgraf, Euichan Jeong, Franco Oportus Vergara, Nika Wesch-Potente, Herrenchor und Extrachor Herren  des Landestheaters Detmold, Symphonisches Orchester des Landestheaters Detmold






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