Der namenlose Ich-Protagonist ist weiß an Charakter, Anzug und Stimme. Er zeigt auch große Unentschlossenheit. Die eine fassbare Geliebte, Anna, flieht den Ich wegen einer anderen fernen Geliebten, dem Mädchen am Fenster. Aber letztere könnte alsbald an Schwindsucht und Lähmung sterben, behauptet Anna aus nur zu verständlicher Eifersucht. – Eine Dreiecksgeschichte mit dicht gestaltetem Milieu und Atmosphäre eines Durchschnittsorts. Wie viele belletristische Texte zwischen Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts handelt auch Joseph Roths Erzählung „April“ (1925) vom Zaudern bei anstehenden Entscheidungen und äußerst fragilen Beziehungen. Stefan Tilch, Intendant am Landestheater Niederbayern mit den Hauptstandorten Passau, Landshut und Straubing, fand den Titel, der in der Oper betreffend schwankendes Thermometer und Stimmungsbarometer zu symbolischer Bedeutung wächst, „flirrend“.
Frühling ohne Liebesglück
Die Pläne im launischen April sind wechselhaft und voller emotionaler Sturmhöhen, aber „am 28. Mai weiß man bereits, was man will.“ So redet es sich der in der Partitur des oberösterreichischen Komponisten Peter WesenAuer verdoppelte Ich ein, gibt Anna den Laufpass und bekommt das weder gelähmte noch vom nahen Tod gefährdete Mädchen am Fenster nicht – aber von diesem kurz vor der Abreise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten wenigstens ein strahlendes Lächeln. Reinhild Buchmayer singt das hier strahlend wie WesenAuers Melodienlinien wirkende Geschöpf. Opulent fluten die Musikwogen in das Architektur-Juwel des Fürstbischöflichen Opernhauses unterhalb des Domplatzes.
Im Zentrum der Oper stehen der Ich, geteilt in einen Tenor und einen Schauspieler, die von ihm umworbene Anna und das Mädchen am Fenster vor einem Genregemälde markanter Figuren eines nicht konkret lokalisierten Kleinstadtlebens in Mitteleuropa. Möglich wäre diese Handlung auch in der katholisch geprägten Bischofsstadt Passau, die zwei Bistumspatrone hat statt des bei Roth genannten „steinernen Heiligen“. In den Videos von Florian Rödl kommt neben dem Aufführungsort mit nostalgischen Einstellungen auch New York ins Bild – als Sehnsuchtsort und Fluchtpunkt aus beengten Verhältnissen.
Spielfreudiges Ensemble
Der Postdirektor (Edward Leach) und der Kellner Ignatz – keineswegs frustriert vom gescheiterten Berufswunsch Politiker (Daniel-Erik Biel) – erweisen sich dank ihrer Darsteller als außerordentlich wendig, gleichermaßen der Briefträger (Albin Ahl), der Reisende (Matthias Bein) und alle anderen im spielfreudigen Ensemble. Die Kostüme und das andeutende Bühnenbild halten Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels in Farbtönen von Erdbraun bis Cognac.
Die kontakt- und paarungsbereiten Jungen im Stadtpark, die Last der Routine im täglichen Leben und die motorische Ritualität der Abläufe ereignen sich ohne poetische Bohrung oder Anspruch auf symbolische Überhöhung. Das letzte Lächeln des doch nicht kranken Mädchens am Fenster für den abreisenden Ich, die Enttäuschungs- und Klagetiraden Annas dagegen werden mit melodramatischer Überzeichnung ausgespielt.
Tonale Eindeutigkeit
WesenAuers Partitur dazu ist durch und durch tonal. Zumeist jauchzt erst ein melodischer Streicherchor, über dem die Stimmen in wohlklangsatten Parallelen ausufern dürfen. Es folgen dann eine synkopische Tangofläche oder ein keck darein fahrendes Trompetensolo. Apart wirkt zunächst der aus Joachim Vollraths Sprechstimme und Martin Mairingers Tenor zusammengesetzte Ich. Wenn Sprechrolle und Gesangspart mit kurzen Satzpartikeln aufeinander reagieren, sind das die besten Momente der Komposition.
Mairingers Tongebung ist vorbildlich betreffend gesanglicher Zielstrebigkeit, deutlicher Deklamation und gestischer Gestaltung: Ein Tenor mit breitem Spektrum und gewinnender Präsenz. Aber WesenAuer setzt dem Part kaum musikalisch artikulierte Skrupel zu, am wenigstens bei der zügigen und hier vor allem zu leichtfertig anmutenden Partnerwahl. Henrike Henoch gibt eine herzensgute Anna mit inniger Lyrik ohne Proletarierinnen-Appeal. Am Krisenpunkt darf sie hysterisch wirkende Wortwiederholungen skandieren.
Nettes Kleinstadt-Flair
Stefan Tilchs Passauer Kleinstadtgeschichten wirken einfach nett vor dem Hänger mit Schäfchenwolken auf blauem Himmel und den Dächerzacken darüber. WesenAuer kennt die musikalischen Gesetzmäßigkeiten von Film und Theater zur Belebung dieses flachen Ambientes genau und setzt diese Kenntnis mit eloquentem Können ein. Keine Szene ist zu lang, keine Episodenfigur zu weitschweifig und alle – mit Ausnahme des abreisenden Ich – scheinen sich in der Gemächlichkeit des Milieus bestens zu fühlen.
WesenAuer steht am Pult der Niederbayerischen Philharmonie, holt aus zu einem breiten Fluss und kostet die von ihm geschaffene Klangfülle mit raumgreifendem Selbstbewusstsein aus. Dem Chor des Landestheater Niederbayern unter Leitung von R. Florian Daniel und der Statisterie mit der Choreographie von Sunny Prasch gelingt eine sehr synergetische Zusammenarbeit. Das Publikum spendete am Ende großzügigen Applaus.
Landestheater Niederbayern
WesenAuer: April – Die Geschichte einer Liebe
Peter WesenAuer (Leitung), Stefan Tilch (Regie), Charles Cusick Smith, Philip Ronald Daniels (Bühne und Kostüme), Sunny Prasch (Choreographie), Luciano Mercoli, Martin Mairinger, Henrike Henoch, Reinhild Buchmayer, Albin Ahl, Edward Leach, Matthias Bein, Astrid Nowak, Riccarda Schönerstedt, Samantha Senn, Julia Werbick, Julian Stöcklein, Timo Balzli, Daniel-Erik Biel, Claudia Bauer, Opernchor des Landestheaters Niederbayern, Niederbayerische Philharmonie