Das Besondere an diesem Opernabend ist, zumindest über drei Akte, der fast im Wortsinn unerhörte Orchesterklang. Wie schon beim letztjährigen „Don Giovanni“ schmiegt sich François-Xavier Roths Mozart-Lesart in die trockene, etwas körnige Akustik des Kölner Staatenhauses, als wäre „Le nozze di Figaro“ ausgerechnet für dieses Ausweichquartier komponiert. Der Dirigent faltet die Menschenkenntnis und -liebe des Komponisten beispielhaft auf. Das Gürzenich-Orchester folgt sensibel und mit großer Begeisterung. Da ist vieles zu hören, was oft, gerade bei diesem Stück, in der Betriebsroutine untergeht. Seidig, flexibel und, wo es angezeigt ist, mit fast erschreckender Härte musizieren die Streicher. Lustvoll betätigen sich die Holzbläser als Klangfundament und -modulatoren – und manchmal auch überraschend als Effektgeräte wie, ein Beispiel unter vielen, die vorwitzigen Flöten bei Susannas „Venite inginocchiatevi“. Man hört viele solcher Einzelheiten, hört etwa deutlich die seltsame Kameraderie von Trompeten und Schlagwerk als brachiale Klangfarbenwechseleinheit, ohne je auf den komplexen Mischklang verzichten zu müssen. Als Ganzes ist das ein kleines Wunder an Musizierfreude und Genauigkeit, was auch für die Ensembles gilt. Wohl selten waren das Finalseptett des zweiten und das Sextett des dritten Aktes derart fein austariert.
Die Regisseurin kratzt an der Oberfläche des tiefsinnigen Stücks
Leider vermag die Regisseurin Emanuelle Bastet diese außergewöhnliche Vorgabe nicht für ihre Inszenierung zu nutzen. Sie vermittelt die Vorgänge über weite Strecken schlüssig, inszeniert aber lediglich an den Figuren entlang, kratzt allenfalls an der Oberfläche, lässt nie in sie hineinschauen, stellt keine wirklichen Menschen, in keinem Moment Existenzielles auf die Bühne. Bei Figaros „Non più andrai“ versucht sie einen kritischen Akzent, konfrontiert den zum Militär abkommandierten Cherubino mit dokumentarischen Kriegsbildern und setzt so einen ersten Tiefpunkt ihrer Regiearbeit, weil durch Abgang aller anderen Figuren der singende Figaro seines Publikums auf der Bühne und somit dieses wunderbare Musikstück seiner dramaturgischen Funktion beraubt wird.
Optisch schwer unterscheidbare Figuren flanieren durch helle, heutige Bühne
Tim Northam hat eine helle, heutige Bühne hingestellt, luftige Gemächer mit blassgrüner Einheitstapete. Ab Ende des dritten Aktes tragen alle Mitwirkenden weiß. Spanische Wände mit Spiegeln dominieren die Bühne, zwischen denen die optisch schwer unterscheidbaren Figuren ohne Farbkontraste hin- und herflanieren. Trotz der gestrichenen Arien von Marzellina und Basilio (von Kismara Pessatti und John Heuzenroeder hätte man die durchaus gerne gehört) zieht sich der bekannt schwierige vierte Akt end-, farb- und ideenlos, zumal der eigentlich formidable Robert Gleadow ausgerechnet in der großen Figaro-Arie nicht zu Hochform auflaufen kann und das Orchester seine große Konzentration nicht hundertprozentig bis zum Schluss zu halten vermag.
Spielfreudiges Ensemble und ein prominenter Alt-Almaviva
Sängerisch ist es ein guter Abend an der Oper Köln mit einem zudem überdurchschnittlich spielfreudigen Ensemble. Bo Skovhus macht durch Ausstrahlung und Timing zumindest über weite Strecken wett, dass der Graf Almamiva, den er mittlerweile über 25 Jahre singt, mittlerweile außerhalb seiner musikalischen Möglichkeiten liegt. Andrea Soare ist eine sehr selbstbewusste, stimmlich leuchtende Gräfin, Regina Richter ein angenehm müheloser Cherubino. Mit der Canzone „Voi che sapete“ fliegen ihr sämtliche Herzen des Publikums zu. Emily Hindrichs Susanna führt ihren nicht besonders farbenreichen, ein wenig gläsern klingenden Sopran mit viel Charme, großem Ebenmaß und überwältigender Musikalität. Sie phrasiert eigenständig, nutzt alle dynamischen Möglichkeiten, die ihr diese Rolle schenkt und wird folgerichtig zum zu Recht umjubelten Mittelpunkt dieses unausgeglichenen Abends.
Oper Köln
Mozart: Le nozze di Figaro
François-Xavier Roth (Leitung), Emmanuelle Bastet (Regie), Tim Northam (Ausstattung), Andrew Ollivant (Chor), Theresia Renelt (Hammerklavier), Bo Skovhus, Andrea Soare, Emily Hindrichs, Robert Gleadow, Regina Richter, Kismara Pessati, Paolo Battaglia, John Heuzenroeder, Alexander Fedin, Reinhard Dorn, Maria Isabel Segarra, Chor der Oper Köln, Gürzenich-Orchester