Der Tod tanzt. Und grinst bis über die Ohren. In seinem mephisto-roten Wams und dem weiß geschminkten Glatzen-Schädel sieht Heldenbariton Claudio Otelli aus wie der mörderische Batman-Joker. Und die finsteren Absichten dieses Nekrotzar – nomen est omen – sind denn auch durchaus ähnlich destruktiv. Der György Ligetis Anti-Anti-Oper ihren Namen gebende Große Makabre will die Welt mit Hilfe eines Kometen vernichten. So nebenbei bringt er ein Opfer aber auch mal per Vampirbiss zur Strecke, weil’s sich so hübsch reimt: „Blut schmeckt gut.“
Der Tod als Taschenspieler?
Die grandiose Groteske, die Ligeti nach der Vorlage des absurden Theaters des Belgiers Michel de Ghelderode geschaffen hat, lässt vielsagend offen, wer denn dieser personifizierte Tod nun wirklich ist. Bloß ein charismatischer Gaukler, der all den schrägen Gestalten des verhurt heruntergekommenen imaginativen Breughellands einen höllischen Schrecken einjagen will und ihnen den Spiegel vorhält? Ein manipulativer Taschenspieler, der mit den allzu menschlichen Ängsten spielt? Ein aus der Hölle ans Tageslicht aufgetauchter demagogischer Scharlatan-Verführer vom Schlage eines gewissen amerikanischen Präsidenten, der dem Volk einfach jede Lüge auftischen kann und sich heimlich ins Fäustchen lacht? Selbst die Lüge vom nahenden Weltuntergang, der nun unmittelbar bevorstehe?
Grimassieren, was die Gesichtsmuskeln hergeben
Derartig plumpe politische Aktualisierungen hat Herbert Fritsch natürlich nicht nötig. Sein einfach jeden Sängerkörper entfesselnder Spieltrieb ist nie vordergründig politisch, es gibt keine brechtianische Botschaft, keinen erhobenen Zeigefinger, dafür gewohnt prallen Humor, Grimassieren, was die Gesichtsmuskeln hergeben, Gegen-die-Portalwand-Knallen und in den Bühnenabgrund-Fallen, wie es den Regisseur die Slapstick-Komiker der Ära des Stummfilms gelehrt haben. Ligetis Totentanz ist für genau diesen Zugriff die steilstmögliche Vorlage. Als Meister des Absurden und Marionettenhaften weiß Fritsch sie zu nutzen, geht freilich behutsam, ja wohldosiert zu Werke – anders als in seinen bisherigen Arbeiten fürs Musiktheater, in denen die Gefahr des Overacting nicht immer gebannt war.
Eros trifft Thanatos
Fritsch hat Respekt vor Ligetis Meisterwerk, das in Luzern in der revidierten Salzburger Fassung von 1996 erklingt. Das Warten auf den Weltuntergang erhält so die perfekte tragikomische Fallhöhe, erstaunlich viele starke ruhige Momente und solche, in denen die Musik für sich und aus sich spricht. Sehr wohl im Sinne Ligetis kommen sich Eros und Thanatos bei Fritsch auf denkbar bunte Weise nah. Särge in knalligen Farben bevölkern die Bühne in zunehmender Zahl, darin und darauf geht’s auch mal deftig zu. Das lesbische Liebespaar hat den nahenden Weltuntergang dank sexueller Hyperaktivität einfach nicht mitbekommen, es hatte Besseres zu tun, als sich gerade darum zu sorgen.
Als oberster Staatsvertreter im letzten Stadium der Dekadenz fasst sich der vogelscheuchige Operettenfürst Go-Go zum Satz „Ich will keine Krone“ wortwitzig nicht ans Haupthaar, sondern ins nicht mehr ganz taufrische Gebiss. Countertenor Hubert Wild singt und spielt diesen Ga-Ga-Fürsten mit ganz viel tragikomischem Mut. Das Porträt des von Nekrotzar wie einen Wiedergänger Wozzecks erniedrigten Piet vom Fass gewinnt dank des tollen Tenors von Robert Maszl verblüffende Tiefe. Die Domina-Gattin des Chefastrologen Astradamors ist dank Altistin Sarah Alexandra Hudarew eine sängerdarstellerisch hochfliegende wie hängebusige Wucht, die natürlich allein den fantasieprall originellen Kostümen von Bettina Helmi entspringt. Kein geringeres Ereignis ist die koloraturenkitzelnd kesse Chefin der Geheimpolizei namens Gepopo in Gestalt und Stimme von Diana Schnürpel.
Lob des hedonistisches Wir-leben-ja-doch-noch
Ligetis Totentanz wird in der ganzen sinnenfrohen Überdrehtheit der Inszenierung in schöner Dialektik letztlich zu einem Hymnus auf ein hedonistisches Wir-leben-ja-doch-noch. Das Prinzip von Lust und Drang steht am Ende – nicht unähnlich einem heimlichen Vorbild Ligetis: Verdis Oper „Falstaff“, dessen fugenfinales „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“ in „Le Grand Macabre“ seine Auferstehung feiert. Für die prachtvolle musikalische Wirkung dieser Botschaft sorgt auch das von Clemens Heil punktgenau präparierte Orchester und ein Sängerensemble, das jede Ligeti-Vertracktheit lustvoll leichtfüssig genießt. Das Luzerner Theater formuliert mit der Premiere ein Saisoneröffnungs-Statement von Metropolenformat.
Luzerner Theater
Ligeti: Le Grand Macabre
Ausführende: Clemens Heil (Leitung), Herbert Fritsch (Regie & Bühne), Robert Maszl, Magdalena Risberg, Karin Torbjörnsdottir, Claudio Otelli, Sarah Alexandra Hudarew, Vuyani Mlinde, Diana Schnürpel, Remy Burnens, Bernt Ola Volungholen, Hubert Wild, Luzerner Sinfonieorchester