Seit Monaten reihen sich „Don Giovanni“-Inszenierungen von Radebeul bis Nürnberg. Jetzt folgt die Mozartstadt Würzburg kurz nach Bekanntgabe des Programms zum Mozartfest 2024 „Schuld & Vergebung: Der Seelenforscher Mozart“. Unter dieses Motto passt auch die „Oper aller Opern“ eigentlich optimal. Der Verführer Giovanni fordert die göttliche Ordnung heraus, wenn er sich an Frauen vergeht, den von ihn getöteten Komtur zum nächtlichen Schmaus bittet, von diesem in die Hölle geholt wird und die von ihm Geschädigten, aber auch Beglückten in ihrer seelischer Leere allein lässt. Zudem ist „Don Giovanni“ immer ein untrügliches Qualitätssiegel für den künstlerisch-mentalen Zustand eines Musiktheater-Ensembles.
Don Giovanni als netter Durchschnittstyp
Bis zur vollendeten Generalsanierung des Gebäudes im Zentrum spielt das Mainfrankentheater Würzburg noch in der Theaterfabrik Blaue Halle. Don Giovanni ist hier ein netter Durchschnittstyp, der die Aufregungen um ihn weder verständlich macht noch rechtfertigt. Dem Publikum vermag Giovanni nicht so recht mitzuteilen, aus welchen Gründen er sich an Frauen heranpirscht, ob ihn dazu unbändige Lust, sportiver Eroberungsdrang, ein leicht schadhaftes Selbstbewusstsein oder die Lust am Rebellentum treiben. Das irrlichternde Widerspiel von Oberfläche und Abgrund, Anarchie und Moral, das aus den literarischen Quellen der Spätrenaissance und des Barock in Lorenzo da Pontes heiteres Drama mit dem Überbau eines dualistischen Weltenpanoramas zwischen Himmel und Hölle hineinragt, entfaltet sich in der Theaterfabrik Blaue Halle leider nicht.
Nach dem Verschwinden Don Giovannis stehen die ratlos Zurückbleibenden in Reihe: Donna Elvira als reuige Nonne, Zerlina im blütenreinen Petticoat neben ihrem schmerzhaft durchschnittlichen Masetto (grobkörnig: Taiyu Uchiyama), der einsame gute Junge Leporello und Donna Anna mit Babybauch unter schicker Umstandsmode neben ihrem sympathischen wie hanebüchenen Bräutigam Don Ottavio.
Karikatur statt Komödie
Marcel Kellers graue Elemente, Stufen und Nischen sollten einen allgemeingültigen Spielraum abgeben, dessen Tristesse vor allem durch die Lückenhaftigkeit von Markus Trabuschs „Don Giovanni“-Lesart auffiel. Die Idee des inszenierenden Intendanten und Literaturwissenschaftlers: Er pickte aus der berühmten Sekundärliteratur zur 1787 in Prag uraufgeführten Oper ihn anspringende Splitter heraus und verpackte sie in der von ihm mit Keller in den 1950ern angesiedelten Story. E. T. A. Hoffmanns Vision zum Beispiel, dass Donna Anna an der erotischen Begegnung mit Giovanni verglüht und für ein weiteres Leben untauglich wird. Ein bisschen erweiterten Aktionsraum Richtung 1980er Jahre ließen sich Trabusch und Keller allerdings. Zur Ouvertüre fahndet man mittels eines Phantombilds nach dem „echten“ Don Giovanni. Dieser tritt als Sportrennfahrer, Modezar in Weiß und Illustrierten-Star auf. Perfekte Oberfläche also. Der Bariton Leo Hyunho Kim singt strahlend, aber ohne Figurenkern. Auch wer die Menschen um ihn sind und was sie wollen, erfährt man nur in Ansätzen. Dabei geht es überaus prickelnd los. In einer heißen Partynacht lockt Donna Anna Giovanni – der Champagner hat Schuld! – in ihr Schlafzimmer, was einer eindeutigen Aufforderung gleichkommt. Nach dem Totschlag Giovannis an ihrem Vater hat Anna also wirklich Dreck am Stecken und etwas Wichtiges zu verbergen. In den beiden explosiven Szenen mit Don Ottavio und der seraphischen B-Dur-Arie zeigt Anna dann allerdings weder versteckte Scham noch schlechtes Gewissen, wohl aber primadonnenhafte Leidensroutine in rauen Mengen.
Perfekter Oberflächenreiz
So geht es weiter. Keinen seiner durchaus kreativen Einfälle modelliert, schärft oder legitimiert Trabusch. Nichts wird ausgestaltet, begründet oder wenigstens plausibel gemacht. Auch Donna Elvira bleibt abendfüllend primadonnenhaft – wenigstens also perfekter Oberflächenreiz. Das Beeindruckendste an der Geistererscheinung des Komturs ist eine klaffende Stirnwunde. Trotzdem ist Gustavo Müller als Komtur an diesem Abend die einzige Männerstimme mit Persönlichkeit.
Die drei Frauen sind die Stars
Was hätte man aus dieser Glückskonstellation für ein künstlerisches Kapital schlagen können? Selten gibt es für „Don Giovanni“ ein fachlich und physisch so ideal harmonierendes, sich ergänzendes und synergetisch agierendes Frauentrio. Milena Arsovska als Zerlina, Vero Miller als Donna Elvira und Silke Evers als Donna Anna bilden das Herz der Aufführung. Groß, schlank und charismatisch bestätigt dieses fulminante Sopran-Trio, dass Mozarts „bestrafter Wüstling“ ein klar erkennbares Beuteschema hat. Evers und Miller agieren zwangsläufig facettenarm, weil die Regie ihnen nichts abfordert. Das Duett mit Leporello, den sie fesselt und knebelt, gerät für Milena Arsovska zum Höhepunkt ihrer Partie, den allenfalls die Belanglosigkeit Leporellos etwas beeinträchtigt. Tair Tazhis Leporello in Jeanslatzhose mit schwarzer Fliege und Roberto Ortiz‘ leicht kehliger Don Ottavio bleiben weitgehend blass. Das fällt desto mehr auf, weil der Chor beim Fest als Faschingsgesellschaft erscheint und angemessen grob singt (einstudiert von Sören Eckhoff).
Auch vom Philharmonischen Orchester Würzburg kam diesmal keine Hilfe. Gábor Hontvári dirigiert Mozarts Partitur, als gäbe es keine historisch informierte Aufführungspraxis. Von Anfang bis Ende viel zu laut, ohne Transparenz und ohne Feinheiten. Nebenstimmen hört man kaum, alles rumort in weit aufgerissenen Dynamikbereichen. Im Sextett und im zweiten Finale lösen sich musikalische Linienführung und Erkennbarkeit von Instrumenten fast vollends auf. Schade.
Mainfranken Theater Würzburg in der Theaterfabrik Blaue Halle
Mozart: Don Giovanni
Gábor Hontvári (Leitung), Markus Trabusch (Regie), Marcel Keller (Bühne und Kostüme), Roland Edrich (Licht), Leo Hyunho Kim, Silke Evers, Roberto Ortiz, Gustavo Müller, Vero Miller, Tair Tazhi, Taiyu Uchiyama, Milena Arsovska, Opernchor des Mainfranken Theaters Würzburg, Philharmonisches Orchester Würzburg