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Opern-Kritik: Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin – Sancta Susanna

Die nackte Wahrheit

(Schwerin, 30.5.2024) Am Staatstheater Schwerin nimmt sich Choreografin Florentina Holzinger Paul Hindemiths Einakter „Santa Susanna“ und dazu die Rituale der katholischen Kirche vor. Der Skandal bleibt schließlich aus.

vonRoberto Becker,

Wer die Wienerin Florentina Holzinger dazu überreden kann, sich mit ihrer Performance-Ästhetik an einer Oper abzuarbeiten, hat schon mal die Aufmerksamkeit des Feuilletons auf seiner Seite. Besonders dann, wenn es sich um ein Haus wie das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin handelt, das nicht direkt auf den Reiserouten der Kritiker liegt. 

Der mitgereiste Fanclub jubelt – und die Einheimischen auch.

Die Zeiten, in denen hier die DDR-Theaterlegende Christoph Schroth ab Mitte der siebziger Jahre für subversive Anziehungskraft sorgte, sind lange vorbei. Eine Aura des Besonderen verschaffte der jetzige Intendant Hans-Georg Wegner seinem Haus nun mit der Einladung an die österreichische Choreografin und Performerin, die das splitternackte Auftreten ihrer weiblichen Truppe zum Markenzeichen gemacht hat. Auch damit ist ihr eine begeisterungs- und offensichtlich auch reisefreudige Fangemeinde zugewachsen. Da aber alle vier geplanten Vorstellungen in Schwerin ausverkauft sind, bevor die Produktion zu den koproduzierenden Wiener Festwochen, nach Stuttgart und schließlich an die Volksbühne wandert, kann es nicht nur der Fanclub sein, der den Saal füllte. Da müssen schon auch genügend neugierige Einheimische dabei gewesen sein. Zur Premiere waren sich alle Teile des Publikums im Jubel einig.

Szenenbild zu „Sancta“
Szenenbild zu „Sancta“

Holzinger, die Aufmerksamkeitserregungs-Meisterin

Natürlich hat Holzinger das Eva-Kostüm ohne Feigenblatt nicht erfunden. Und sie weiß auch, dass sie damit immer auch ein Quantum Voyeurismus bedient. Oder diesen Ruf nutzt, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Mit ihrem Griff zum Genre Oper folgt sie jetzt einer Versuchung, der auch vergleichbare Aufmerksamkeitserregungs-Genies wie Kresnik oder Schlingensief (mit einigem Erfolg) nicht widerstanden haben. Oper ist nun mal die Königsdisziplin der Bühnenkünste. Das Insistieren auf der Selbstermächtigung von so ausgestellter Weiblichkeit kann sie aber schon für sich reklamieren. Was sie macht, wäre, in die Sphäre der Sprache übertragen, der Triumph des Generischen Femininums über das bislang herrschende Generische Maskulinum.

In einem der vielen starken Bilder ihrer Opernperformance „Sancta“, in dem sie den nicht mal halbstündigen titelgebenden Einakter „Santa Susanna“ von Paul Hindemith aus dem Jahre 1922 längst hinter sich gelassen hatte, hängen ihre Performerinnen in einer Kletterwand im Bühnenhintergrund und zertrümmern dort mit Eifer jene (nun ja, tatsächlich männlich konnotierte) Szene aus der Sixtinischen Kapelle, in der Gott den Adam ins Leben stupst. Also der alte weiße und weißhaarige den smarten jungen Mann. Das will Holzinger in der Messe, die sie auf Hindemith folgen lässt, jedenfalls nicht stehen lassen. 

Szenenbild zu „Sancta“
Szenenbild zu „Sancta“

Nackt und zur Kenntlichkeit entstellt

Das Stilmittel der Nacktheit ist diesmal immerhin ein direkter Verweis auf die an den weiblichen Körper gebundene Sexualität. Und eine Feier der Selbstermächtigung, die so weit geht, alle Rituale einmal so durchzuschütteln, dass sie am Ende nackt und bloß zur Kenntlichkeit entstellt vor uns stehen. Und zum Nachdenken provozieren. Zumindest als Teil der Rückbesinnung einer vorwiegend säkularen Gesellschaft auf ihre Wurzeln. Das gibt schon Hindemiths orgiastisch aufrauschende Musik her, die in einem ganz eigenen Tonfall mal an den „Parsifal“- oder den Debussy-Sound erinnert, aber auch eskalieren kann, als wäre es ein Blick hinter die Pforten in „Herzog Blaubarts Burg“.

Es ist die Geschichte von der Nonne Susanna, die ihrer eigenen Sexualität nicht Herr (bzw. Frau) wird. Zumindest nicht nach den geltenden Regeln. Dies wird später eine Päpstin persönlich aus der Höhe eines Kranarmes in der Diktion ihrer männlichen Kollegen noch einmal klarstellen. In der Oper jedenfalls gelingt es nicht, körperliches Begehren als Liebe zum Heiland am Kreuz zu sublimieren. Hier wird Christus handfest umarmt. Vor dem Altar erzählt die Nonne Klementia Susanna die Geschichte von Beata, die einmal gänzlich unbekleidet das Kruzifix umarmte und küsste, woraufhin die Lenden dieses Jesus verhüllt und Beata lebendig eingemauert wurde. Auch Susanna fordert das für sich ein.

Szenenbild zu „Sancta“
Szenenbild zu „Sancta“

Revolte gegen die systemstiftende Unterdrückung selbstbestimmter weiblicher Sexualität

Was nach der Kurzoper in der Gliederung einer katholischen Messe folgt, ist eine zweistündige Nummernrevue, die gegen die systemstiftende Unterdrückung selbstbestimmter weiblicher Sexualität durch die von Männern aufgestellten Regeln in provozierenden Bildern und mit eskalierender Vitalität revoltiert. Jetzt gibt es mit Musik von Bach bis Cole Porter, aber auch neu Komponiertem von Johanna Doderer und anderen einen aufschäumenden musikalischen Cocktail, der sich mitunter in Musicalmanier direkt dem Publikum anbiedert. Imponierend, wie der Nonnen-Chor, vor allem aber Cornelia Zink (Susanna), Andrea Baker (Klementia) und Emma Rothmann (Alte Nonne) hier vokal und darstellerisch mitziehen. Und wie Dirigentin Marit Strindlund alles zusammenhält.

Aber auch die Lücken lässt für einen hingerockten Jesus-Auftritt oder die Selbstaussagen der performenden Nonnen, warum man sie heiligsprechen könnte. Auch Sündenbeichten ist angesagt. Vor der Kletterwand toben sich nackte Nonnen in einer Halfpipe mit ihren Rollschuhen aus. Zum Abendmahl wird frisch herausgeschnittenes Menschenfett in einer Pfanne ausgelassen. Auch der von der Heiligen Geistin herbeigezauberte Rotwein könnte oder sollte Blut sein. 

Szenenbild zu „Sancta“
Szenenbild zu „Sancta“

Die Heilige Geistin und zwei Frauen am Neonkreuz

Stärker im Gedächtnis bleiben die zwei Frauen am Neonkreuz, oder die eine von ihnen, die als menschlicher Klöppel eine Kirchenglocke zum Klingen bringt. Weil es mit dem vielleicht erhofften Skandal nichts wurde, ließ sich das Publikum willig auf die Aufforderung zum Mitsingen von „Don’t dream it, be it“ ein und applaudierte stehend der Truppe von Holzinger, dem hauseigenen, fabelhaft mitspielenden Nonnenchor, dem Orchester und der Dirigentin. Und wohl auch ein wenig sich selbst. 

Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin
Holzinger: „Sancta“ mit „Sancta Susanna“ von Paul Hindemith und geistlichen Werken und Neukompositionen von Johanna Doderer, Born in Flamez, Stefan Schneider u. a.

Florentina Holzinger (Regie, Choreografie & Performance), Marit Strindlund (Leitung), Johanna Doderer (Komposition & Arrangement), Born in Flamez (Komposition & Supervision Bühnenmusik), Stefan Schneider (Komposition und Sound Design),   Nadine Neven Raihani (Komponistin und Produzentin), Gibrana Cervantes, Josephinex Ashley Hansis, Karl-Johan Ankarblom, Odette T. Waller, otay:onii (Komposition & Arrangement), Blathin Eckhardt, Gibrana Cervantes, otay:onii, Paige A. Flash, Born in Flamez (Bühnenmusik), Nikola Knežević (Bühne & Kostüm), Chordirektor: Aki Schmitt (Chor), Felix Ritter (Dramaturgie), Andrea Baker, Annina Machaz, Blathin Eckhardt, Born in Flamez, Cornelia Zink, Emma Rothmann, Evilyn Frantic, Fibi Eyewalker, Florentina Holzinger, Gibrana Cervantes, Jasko Fide, Fleshpiece, Luz De Luna Duran, Malin Nilsson, Netti Nüganen, otay:onii, Paige A. Flash, Renée Copraij, Saioa Alvarez Ruiz, Sara Lancerio, Sophie Duncan, Veronica Thompson, Xana Novais

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