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Opern-Kritik: Meininger Staatstheater – Tristan und Isolde

Delirium aus der Pipette

(Meiningen, 12.4.2025) Ein bemerkenswert junges Ensemble erklimmt in „Tristan und Isolde“ den Mount Everest des Wagner-Gesangs gemeinsam mit GMD Killian Farrell, der eine hohe Sensitivität im Rausch beweist. Die Regie von Verena Stoiber allerdings enttäuscht.

vonRoland H. Dippel,

Spätestens seit dem legendären „Ring“ von Christine Mielitz und Kirill Petrenko ist Meiningen ein Wagner-Hotspot. Dabei wurde die Musiktheater-Sparte in der legendären Hofkapelle- und Schauspiel-Residenzstadt, welche in den Spielzeiten 2025/26 und 2026/27 den 200. Geburtstag des Theaterherzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen feiern wird, erst in der DDR etabliert. Eine Produktion von „Tristan und Isolde“ mit dieser hohen musikalischen Qualität und einer Besetzung nur aus dem eigenen Ensemble ist ein durchschlagskräftiger Leistungsbeweis, auch wenn Verena Stoibers zweite Inszenierung am Staatstheater Meiningen – nach Strauss‘ „Salome“ – wegen kreativer Skepsis und blasser Personenregie schwächelte.

Im hier glücklicherweise nicht als Liebesstück missverstandenen Radikal-Opus agierte Stoiber gegen Ende ohne das neben dem Emotionentaumel unerlässliche Überzeugungsgeschick. Zweifel und sinnfällige Skepsis funktionieren bei „Tristan und Isolde“ nur mit plausibler Hinterfragung.

Erst gute, später schwächelnde Personenregie

Zwei wesentliche Handlungsmomente gibt es in dem 1865 im Münchner Hof- und Nationaltheater uraufgeführten und dann zwei Komponierendengenerationen in Bann schlagenden Musikdrama: Das Einnehmen des Liebestranks durch die irische Königstochter Isolde und den „best man“ ihres königlichen Bräutigams Marke von Cornwall, später die tödliche Verwundung Tristans nach dem hier leider gekürzten Liebesduett. Ersteres gelang Stoiber brillant, letzteres matt und nach brisanter Videoflash-Aktualisierung nur mit einem anachronistischen Schwert ohne symbolischen Mehrwert.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater

Mit dem Verwässern des Regieeinfalls versandete auch das Spannungspotenzial der Musik. Der schließlich doch mit einer außergewöhnlichen Leistung bezwingende Marco Jentzsch bat aus Angst vor Versagen bei den singmörderischen Titelpartie-Strapazen vor dem Schlussakt um eine entschuldigende Ansage.

GMD Killian Farrell schärft die Klinge zwischen „Realität“ und Rausch

Dabei begann der Abend intelligent und faszinierend. GMD Killian Farrell modellierte in der ersten Stunde sehr klar, mit hier logischerweise geerdet singenden Streichern und einer sehr ariosen Struktur für Isoldes lange Rekapitulationen. Hier sind Tristan, Kurwenal und Brangäne leicht angemüdete Passagiere mit zuerst in Reisemonotonie befangener Stimmung. Noch verlaufen die Handlung und Jonas Dahls Videos, die Stoibers und Wagners Erzählen auf mindestens drei Ebenen begleitet, parallel. Dahls Mitwirken ist viel wichtiger als das Bühnenbild von Susanne Gschwender. Sie steuert im zweiten Akt Markes und Isoldes in der Ekstase mit Tristan schnell zum Traumboot umfunktioniertes Ehebett, im dritten ein muffiges Krankenzimmer mit edlem Bücherregal bei.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater

Scharfer Knackpunkt wird einmal mehr der Liebestrank. Nicht erst durch diesen, sondern schon längst vorher sind sich Isolde, führend im fein ausgearbeiteten Psychoduell, und Tristan über die Qualität ihrer Beziehung mit bestätigenden Liebesbeweisen einig. Die glasigen Tröpfchen aus der Pipette in den Weißwein (reale Drogenexperten raten davon ab) bringen die ersehnten Halluzinationen mit exzessiver Klimax. Dazu entfesselt Farrell bis zum Ende des Liebesduetts eine Klangrausch-Apokalypse mit Nervengift-Zulage. Das Liebespaar feiert seine Liebe auf einem romantischen See, mit einem Champagner-Rendezvous hinter Tudor-Historismus und einem wilden Easyrider-Trip durch die Rocky Mountains analog zu Wagners ekstatischem Stretta-Finale.

Talfahrt mit Nervengiften und Sinn-Schlamassel

Immer ist Isolde die initiative Spielleiterin und Tristan der melancholisch-willige Mitmacher in diesem Exzess von Bewusstseinserweiterung wie in Filmen Christopher Nolans, erklärtermaßen Stoibers Ideenzündschlüssel. Die Moral- und Strafinstanzen Marke und Melot erscheinen als keltisch-mittelalterliche Figuren wie aus einer antiquierten Wagner-Inszenierung oder Thingspielen der 1930er Jahre.

Jetzt beginnen der Sinn-Schlamassel und die Talfahrt der Regie, wo im dritten Akt Stoiber nur noch um Individualität ringt und den Tenor Marco Jentzsch bei der brutalsten Kraftsportübung des gesamten Musiktheaterrepertoires mit Kapitulation vor Sinn und Form in Stich lässt. Schön dabei die Ebene, dass Tristan und Isolde zu Beginn als glücklich spielende Kinder in der Sonne gezeigt werden. Am Ende bleibt Tristan lebend, aber einsam zurück. Schade.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater

Thüringer Ensemble-Glück

Denn in Meiningen agiert ein bemerkenswert junges Ensemble, in dem sich auch die mit Clara Hertels Kostümen als Schattenfiguren angelegten Partien von Brangäne und Kurwenal bemerkenswert erfreulich positionieren. Tamta Tarielashvili gibt mit üppigem Mezzo eine beeindruckend ungewöhnliche Brangäne, welche die sogar von prominenten Sängerinnen in dieser Partie geübte Zurückhaltung überwindet und einen nachdrücklich mediterranen, in der Diktion allerdings optimierbaren Charakter entwickelt. Shin Taniguchi ist ein sehr präsenter Kurwenal mit hochklassiger Pointierung, gerade weil hier kein verkannter Mini-Wotan von größeren Aufgaben träumt.

Aber ihn und den Marke von Selcuk Hakan Tiraşoğlu treffen scharfe ungerechtfertigte Buhs, wobei Stoiber Tiraşoğlu in seinem langen Monolog ähnlich hängen lässt wie später Jentzsch. Johannes Mooser, Aleksey Kursanov und Hans Gebhardt beweisen den hohen Standard des Meininger Ensembles. Die kurzen Herrenchor-Einsätze sang man live aus der oberen Proszeniumsloge.

Zweifel am bipolaren Wagner-Rausch

Farrells Dirigat und Lena Kutzner entwickeln zuerst eine in ihren Empörungen sehr emanzipierte Isolde. Kutzner ist keine aus diffusem Gefühlsnebel zum Fortissimo-Liebeslicht aufwallende Wagnerheroine und nimmt die Tiraden mit intuitiver Klarheit. Sie attackiert Tristan mit provokativer, dabei kaum zynischer Schärfe. Die Regie und der große Strich im Liebesduett gewähren Möglichkeiten zum ekstatischen und verinnerlichten Jubilieren. Aber auch Kutzner fällt am Ende wegen szenischer Unentschlossenheit ab.

Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater
Szenenbild aus „Tristan und Isolde“ am Meininger Staatstheater

Marco Jentzsch dürfte für alle Anhänger schwerer und baritonal fokussierter Heldentenöre eine herbe Enttäuschung bedeuten. Dafür gelingt ihm weitaus Beeindruckenderes: Er kommt mit Genauigkeit und Persönlichkeit eines weniger vom Schicksal erblich belasteten, die Extremerfahrung mit offener Arglosigkeit suchenden Zeitgenossen einem Ideal ziemlich nahe. Isolde liegt schon richtig damit, wenn sie diesem überlegenden Mann mit enthemmenden Substanzen entgegenkommt.

Hält man wie Stoiber mit verwaschener Ratio gegen den eloquenten Exzess des Musikdramas, hat frau/man verloren. In diesem Fall ist das besonders schade, weil Farrell mit der Meininger Hofkappelle für den Mount Everest des dritten Aktes wirklich hohe Sensitivität im Rausch, aber auch die richtige Dosis Ratio in dessen Strukturierung gehabt hätte. Das Premierenpublikum reagierte überwiegend begeistert.

Staatstheater Meiningen
Wagner: Tristan und Isolde

Killian Farrell (Leitung), Verena Stoiber (Regie), Susanne Gschwender (Bühne), Clara Hertel (Kostüme), Jonas Dahl (Video), Roman David Rothenaicher (Chor), Julia Terwald (Dramaturgie), Marco Jentzsch, Lena Kutzner, Selcuk Hakan Tiraşoğlu, Tamta Tarielashvili, Shin Taniguchi, Johannes Mooser, Aleksey Kursanov, Hans Gebhardt, Chor des Staatstheaters Meiningen, Meininger Hofkapelle






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