Die szenische Uraufführung seiner bedeutendsten Oper „Die Passagierin“ bei den Bregenzer Festspielen 2010 glich einer Sensation – und löste sie späte Renaissance des Mieczysław Weinberg aus. Doch das unerhört vielschichtige, kaum auf einen Nenner zu bringende Schaffen des 1919 in Warschau geborenen Meisters und Schostakowitsch-Freundes, der 1996 im russischen Dauerexil starb, gleicht immer noch einer Terra Incognita. Daniel Grossmann will das ändern, das Bewusstsein der Musikwelt weiten und wagte deshalb jetzt mit seinem Jewish Chamber Orchestra ein einwöchiges Festival in München und Elmau, das Orchester-, Kammer und Filmmusik nebeneinander- und zur Diskussion stellte und als Höhepunkt die Oper „Lady Magnesia“ szenisch auf die Bühne der Münchner Kammerspiele brachte.
Absurde Instrumentierung
„Ein Spätwerk mit absurder Instrumentierung“ nennt Daniel Grossmann den wiederum postmortal (2009 in Liverpool) uraufgeführten einstündigen Einakter schmunzelnd. Ein Streichquartett mixt Weinberg denn auch mit Harmonium, Klavier, E-Gitarre, Saxophon und Perkussion. Klassische Bläser von der Flöte bis zu Horn und Posaune sind ebenso vertreten – und fallen den Sängern schon mal gern frech ironisierend ins Wort, kommentieren dass Geschehen um die sexuell aus ihrer Ehe ausbrechende Lady Magnesia parodistisch. Die Einwürfe des Horns dürfen wir also getrost mit dem gehörnten Gatten Sir George Fitztollemache in Verbindung bringen. Und die klanglichen Topoi und Affektrezepte der Gattung Oper werden auch in den Gesangsparts aufs Korn genommen, etwa wenn die sich emanzipierende Lady gar koloraturvirtuos herumzicken darf.
Noch eine furiose Anti-Anti-Oper
Man kommt nicht umhin, hier an Ligetis Bezeichnung seines Geniestreichs „Le grand Macabre“ als „Anti-Anti-Oper“ zu denken. Gleich einer Affirmation qua Negation bedient sich auch Weinberg den in vier Jahrhunderten angesammelten Zutaten der Gattung und bricht sie lustvoll wie handwerklich hochstechend. Herrliche Duette, Terzette und knappe Solonummmern lassen dank der furiosen Jazzkombo des wild besetzten Orchesters an Kurt Weills Songstil denken, der ja auch vom Barock bis in die Gegenwart klangliche Objects trouves munter zitierte.
Die lustvolle Polystilistik eines Alfred Schnittke ist nicht fern
Weinbergs kompositorische Haltung ist in seiner „Lady Magnesia“ aber wohl am ehesten mit der Polystilistik eines Alfred Schnittke vergleichbar, der in seiner „Historia des D. Johann Fausten“ selbst vor einer wild in die Beine gehenden Tangonummer nicht zurückschreckte. Auch der beißende Humor von Weinbergs Mentor Schostakowitsch scheint gar nicht fern. Doch letztlich tut das allzu menschliche Vergleichen und Einordnen Jubilar Weinberg auch unrecht. Denn er klingt eben nicht bloß „so ähnlich wie“. Vielmehr erfindet er sich in seiner Musik immer wieder selbst neu, komponiert geradezu dialektisch in eigenständiger Nähe zu seinen Zeitgenossen, amalgamiert U-Musik in die ernst hehre Opernwelt, gibt sich gänzlich unorthodox.
Das Jewish Chamber Orchestra Munich in energiegeladener Entdeckerfreude
Es ist diese gleichsam bereits postmoderne Offenheit von Mieczysław Weinberg, die das Jewish Chamber Orchestra unerhört lustvoll ausmusiziert. Da herrscht in jedem Ton eine energiegeladene Entdeckerfreude, eine genuine Neugierde, eine jugendliche Frische, eine persönliche Identifikation und dazu eine individuelle Exzellenz eines jeden auch solistisch geforderten Musikers, dass man beim 2005 noch unter dem Namen „Orchester Jakobsplatz München“ gegründeten Klangkörper an andere unabhängige, die etablierte Szene munter aufmischende Ensembles denkt, sei es die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, das Ensemble Modern oder die Originalklangensembles der Alten Musik.
Der Erfolg der Festivalinszenierung der „Lady Magnesia“ ist freilich dem Mut des gesamten Produktionsteams zu danken, das sich hier nicht einfach demütig vor Weinberg verneigt und die Ausgrabung pflichtschuldig präsentiert, sondern das Werk, über dessen Entstehung kaum etwas bekannt ist, wirklich zeitgemäß befragt. Das beginnt mit der dramaturgischen Entscheidung, das Shakespeare-Sonnett Nr. 71, das Magnesias am Ende der Oper zu einer Statue vergipster Liebhaber Adolphus singt und das Weinberg bereits lange vor der Oper komponiert hatte, dem Abend als Prolog voranzustellen.
Tänzerische Techno-Entgrenzung
Dies entbindet Regisseurin Miriam Ibrahim nicht nur von der eher peinlichen Herausforderung, wie weiland Mozart im „Don Giovanni“ mit dem Komtur eine untote Statue singen zu lassen. Die auf George Bernhard Shaws Farce „Passion, Poison and Petrification“ basierende Kurzoper wird in ihrem musikalischen Collagekonzept weitergedacht in Richtung heutiger performativer Ansätze. Jean-Baptiste Lullys „Dormons, Dormons tous“ aus „Atys“ stellt Dirigent Grossmann an den Beginn, es folgt das Shakespeare-Sonnett des Adolphus, aus dem der junge Medienkomponist Giovanni Berg eine Techno-Loop entwickelt hat, die den Tanz in die Freiheit von Lady Magnesia und Adolphus als zeitgemäßes Motto der Entgrenzung voranstellt.
Miriam Ibrahims Inszenierung lässt an Robert Wilson denken
Die eigentliche Opernhandlung setzt Miriam Ibrahim dann in streng stilisierter, an Robert Wilson und Achim Freyer gemahnenden Reduktion in Szene. Die ins Groteske zielende Maske und Mimik lässt auch an die absurd überzeichneten Arbeiten eines Herbert Fritsch denken. Eben diese surreale Traumwelt tut dieser „Lady Magnesia“ enorm gut. Die Abgründe von Macht, Besitzansprüchen und sexueller Gier, die Shaw und Weinberg aufreißen, kommen so im Verein mit der starken Musik deutlicher zum Ausdruck als in jeder auf natürliche Psychologie und naturalistische Glaubwürdigkeit setzenden Regie. Die überzeugungskräftigen Sänger folgen Ibrahims Wünschen traumwandlerisch: Die wunderbar wandlungsfähige Sopranistin Susanne Bernhard in der Titelpartie, der potente Tenor Juan Carlos Petruzziello als ihr Ehemann, der charismatische Bariton Petro Ostapenko als ihr Liebhaber, der wohlklingende Mezzo Yulia Sokolik als Dienerin.
Ein einziger großer Abschiedsgesang
Später im Orchesterkonzert auf Schloss Elmau verblüfft Daniel Grossmann mit einer Werksauswahl Weinbergs, die noch einmal ganz andere Seiten des Komponisten zeigt. In der „Rhapsodie über moldawische Themen für Violine und Streichorchester“ ist es das sich durch das Gesamtwerk ziehende jüdische Idiom und die Verarbeitung geradezu feuriger Volkstänze – Weinbergs geschickte Konzession an die von der Politik vermittelten Vorgaben, tunlichst nicht „formalistisch“, sondern doch bitte lieber folkloristisch zu komponieren. Nur so konnte Weinberg das für ihn schmerzhafte und seine Existenz gefährdende Komponieren für die Schublade verhindern. Das „Konzert Nr. 1 d-Moll für Flöte und Orchester“ wiederum geahnt an Bartók und in seinen Trauerton an Schostakowitsch. Die „Kammersinfonie Nr. 4 für Klarinette und Streichorchester“, Weinbergs letztes vollendetes, im Jahr 1992 geschriebenes Opus hinterlässt an dem Abend den stärksten Eindruck. Grandios, wie das Jewish Chamber Orchestra hier die in jedem Takt versteckte Wehmut hochgespannt energetisch auflädt. Das Werk, ein einziger großer Abschiedsgesang, lässt in seinem im besten Sinne pathos- wie schönheitstrunkenen Gestus mitunter an Gustav Mahler denken.
Im das Festival abschließenden Gesprächskonzert reflektierte Grossmann gemeinsam mit der Hamburger Musikwissenschaftlerin Verena Mogl einfühlsam über den „bekanntesten der unbekannten Komponisten“, zog Lebenslinien nach und spürte der wechselseitigen Beeinflussung der „seelenverwandten Komponistenfreunde Schostakowitsch und Weinberg“ nach. Ist die Zeit endlich reif für Weinberg? Mogl diagnostizierte, Weinberg habe zu Lebzeiten „für die westliche Avantgarde zu schön geklungen“, schließlich leugnet seine Musik kaum je ihre Wurzeln in Spätromantik und Expressionismus. Die heutige Überwindung der ideologischer Enge in ästhetischen Diskursen ruft nach einer weiteren beherzten Neuentdeckung Mieczysław Weinbergs.
Jewish Chamber Orchestra
Weinberg: Lady Magnesia
Daniel Grossmann (Leitung), Miriam Ibrahim (Regie), Miriam Ibraim & Nicole Wyrtyczak (Bühne), Nicole Wyrtyczak (Kostüme & Video), Juan Carlos Petruzziello, Susanne Bernhard, Yulia Sokolik, Petro Ostapenko, Jewish Chamber Orchestra Munich