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OPERN-KRITIK: Mozartfest Würzburg – Idomeneo

Im Seelenmeer

(Würzburg, 11.6.2021) Christophe Rousset, Les Talens Lyriques und ein gefeiertes Sängerensemble feiern mit Mozart-Magie die neue Welt der Aufklärung.

vonPeter Krause,

Des Menschen Seele gleicht dem Meer. Sie ist unergründlich tief und wild bewegt, in ihrem felsigen Boden bergen sich Sedimente uralter Konflikte, die sich ausspülen und plötzlich wieder auftauchen, wenn ein Mensch noch Jahrtausende später ähnlich archaische Konflikte erlebt. Doch die unendlich brutalen, immerwährenden Wellen der Gewalt lassen sich vollends verflüssigen, wenn Menschen sich in Verstehen und Liebe begegnen. Dann ereignet sich Aufklärung, dann tun sich neue Welten auf. Wolfgang Amadeus Mozart hat als einer der ersten Komponisten solcher Verflüssigung des Archaischen Töne gegeben: in seinem bitterernsten „Idomeneo“ noch unter dem Deckmantel des Mythos und der eigentlich schon abgewirtschafteten Opera seria, mit Figuren, die wohl schon tausendfach aufeinandergeprallt und aneinander gescheitert sind – und sich dann doch der Feindschaft ihrer Väter stellen, sie überwinden können, dem Zyklus von Auge und Auge, Zahn um Zahn entrinnen.

Die Verflüssigung von Archetypen

Feinfühlige Regisseure mögen derart Unerhörtem zeitgemäße Bilder schenken. Doch das ereignet sich selten erfolgreich. Das Mozartfest Würzburg hat zu seinem 100. Geburtstag jetzt eine Einstudierung des Meisterwerks verantwortet, bei der Christophe Rousset zum heimlichen Regisseur derartiger Wandlungen mutierte, somit der Maestro, der aus Texten und Tönen jene Seelenwahrheiten aufspürte, die anno 1781 bei der Uraufführung in München so revolutionär waren, wie sie heute wieder spürbar gemacht werden müssten. Mit Les Talens Lyriques als im Wortsinne wissenden Orchester auf historischen Instrumenten und einem grandiosen sängerischen Mozart-Ensemble, das über prägende Erfahrungen im barocken Opernrepertoire verfügt und gerade dadurch das ganz andere dieser zum Archetypus verfestigten Figuren verkörpern kann.

Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Christophe Rousset
Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Christophe Rousset

Postideologische Mozart-Bilder

So unterschiedliche Legende wie Eugen Jochum, Joseph Keilberth und Renè Jacobs haben beim Mozartfest Würzburg den Salzburger Musensohn gefeiert. Die pünktlich zum Geburtstag des Festivals bei Orfeo erschienene, aufregend vielschichtige CD-Box mit vielfach unveröffentlichen Preziosen der hier gewagten Mozart-Lesarten gibt beredtes Zeugnis davon, wie jede Zeit ihr klangliches Bild des Salzburgers hevorbrachte. Christophe Rousset, der zur aktuellen Speerspitze der Historischen Aufführungspraxis gehört, kann nun in der Interpretationsepoche des Postideologischen ganz frisch und unbefangen zu Werke gehen. Der Franzose muss keine Extreme der einen oder anderen Seite bedienen. Es scheint, dass die Stereotype der Klangrede, wie Harnoncourt sie einführte, heute so sehr inspirieren wie einengen, ohnehin längst überwunden sind alle üppig romantischen Zugänge.

Rousset also stellt seinen Mozart nun als genuinen Musikdramatiker vor, dessen ureigene berstende Bühnenspannnung zuallererst aus den Rezitativen entsteht. Eben die hat Rousset mit maximaler Liebe zum Detail gearbeitet. Das beginnt natürlich beim Text, dessen italienische Konsonanten der Franzose explosiv schärft, sodass die Kernbegriffe des Librettos – Feinschaft und Freundschaft, Rache und Verzeihen, Verzweilfung und Glück – auch den Unkundigen des Italienischen verständlich werden. Da ist jede Nuance und jede Nebenstimme gestaltet und mit Bewusstein gefüllt. Die individuell ausgehörten Farben von Oboen und Flöten, Trompeten und Hörnern klingen so aufregend wie die schlank-sehnigen Streicher, die durchaus auch mal hinlangen und aus dem Vollen schöpfen dürfen. Denn Rousset verbindet eben die Präzsion der Artikulation mit einem saftig emotionsprallen, farbaffinen, nachgerade aufwühlend sanguinischen Mozart. So tönt das Seelenmeer. Unergründlich tief.

Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Maité Beaumont
Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Maité Beaumont

Der Sieg der Besiegten

Dass die Eigenproduktion des Mozartfest Würzburg nun zustandekam, gleicht einem kleinen Wunder in pandemischen Zeiten. Es ist das überhaupt erste Konzert von Les Talens Lyriques nach dem Ende des Lockdowns. Einige der zunächst engagierten Solisten konnten nicht einreisen, sodass die endgültige Besetzung einem multiplen Glücksfall gleicht. Im Zentrum steht die Ilia der Judith van Wanroij, die als Prinzessin von Troya eine Besiegte ist, die allerdings einen Sieger des Krieges liebt. Die Niederländerin macht diese Zerissenheit fern der üblichen Lieblichkeit der Partie deutlich, lebt als echte, selbstbewusste Kämpferin die doppelte Liebe zu ihrer Heimat wie zu Idamante. Reinstes quellfrisches Sopransilber steht bei dieser Ilia neben weiblichem Aufbegehren gegen das von Männern und Göttern gemachte Gesetz. Idamante leiht Maité Beaumont nicht nur ihr leidenschaftliches spanisches Temperament, sondern auch ihren flammenden, herrlich runden und warmen Mezzo. Wenn Maité Beaumont singt: „Son‘ disperato“, dann lebt sie diese Verzweilflung als modernes Individuum und längst nicht mehr als barocker Typus. Komplizierter ist diese Wandlung von der alten Oper zum Seelendrama für Lenneke Ruiten, deren Elektra dem Operntypus der keifenden Furie noch stärker verhaftet ist. Doch ihr kastanieschimmernd dunkler Sopran besitzt eben beides – die dramatische Attacke wie die anschmiegsam weichen Gesten golden gerundeter Töne des Verzeihens. Auch sie wird zur modernen Frau, die den Mut der Verwandlung hat.

Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Giulio Pelligra
Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Giulio Pelligra

Altes Recht und Neue Welt

Das Ich des aufgeklärten Menschen ist in Mozarts musikalischem Drama eben noch eingehüllt in den Mantel des Mythos. Der Idomeneo von Giulio Pelligra löst den Widerspruch mit seiner italienisch geführten Stimme, mit dramatisch durchpulsten Koloraturen, die sich sinnhaft und bedeutsam gegen das Schicksal der Götter wenden, die ihn zwingen, den ersten Menschen, dem er an Land nach seinem Schiffbruch begegnet, zu töten. Dieser Mensch ist sein Sohn Idamante. Doch das Licht der Aufklärung lässt die alten Götter und Seeungeheuer erblassen. Idomeneo verzichtet auf seine Königswürde, setzt Idamante als Nachfolger ein, ebnet den Weg einer Beziehung zur zuvor feindlichen Prinzessin Ilia. Dem alten Recht folgt neue Welt.

Es muss nicht immer Salzburg sein

Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Lenneke Ruiten
Mozartfest Würzburg „Idomeneo“: Lenneke Ruiten

Derlei Mozart-Magie ereignet sich im Kaisersaal der Residenz Würzburg, jenem Juwel, zu dem man emporsteigt durch die Treppenanlage, die Balthasar Neumann und Tiepölo einst schufen. Da werden in den spätbarocken Räumen die Figuren, Plastiken und Gemälde zu Musik. Raumkunst und Zeitkunst fließen ineinander. Mozarts Seelenschau scheint sich zu vollenden. Die begleitende Ausstellung im Museum im Kulturspeicher fragt ergänzend nach den Mozart-Bildern, die wir uns seit den Lebzeiten des einstigen Wunderkinds machen. Die kluge Kontextualisierung des Festivals, die Mozart auch in Zusammenklang mit Komponisten der Gegenwart stellt, differenziert die (Vor-)Urteile in den Köpfen. Und es wird uns auch dies bewusst: Es muss in Mozartdingen zu Festpielzeiten nicht immer Salzburg sein. Das Mozartfest Würzburg setzt seit 100 Jahren vernehmliche Zeichen für einen immer wieder neuen erhellenden Blick auf den nur scheinbar sattsam bekannten Klassiker.

Mozartfest Würzburg
Mozart: Idomeneo

Christophe Rousset (Leitung), Giulio Pelligra, Judith van Wanroij, Maité Beaumont, Lenneke Ruiten, Nicholas Scott, Matthieu Heim, Vokalensemble, Les Talens Lyriques

Das Mozartfest Würzburg dauert noch bis 27. Juni.

Aktuelles Album

Album Cover für Mozart: Imperial Hall Concerts

Mozart: Imperial Hall Concerts

100th Anniversary Mozartfest Würzburg Diana Damrau, Christiane Karg, Alfred Brendel u. a. Naxos

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