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Opern-Kritik: Münchener Biennale – Searching for Zenobia

Poetisches Nachhaken über Syrien

(München, 31.5.2024) Bei der Eröffnung der Münchener Biennale glänzt die italienische Komponistin Lucia Ronchetti als die Vertreterin einer Generation, in welcher ein „offener“ Begriff des Musiktheaters von einer postmodernen Splitterform zu einer selbstverständlichen Form wurde: Thema und Inhalt leiten die Wahl der Besetzung, der künstlerischen Mittel und ihrer Proportion im Werk.

vonRoland H. Dippel,

Das weltweit größte Uraufführungsfestival für Musiktheater ist die Münchener Biennale. Vom 31. Mai bis zum 10. Juni dauert der fünfte und letzte von Daniel Ott und Manos Tsangaris geleitete Zyklus. Koproduktionen mit dem Theater Basel, der Deutschen Oper Berlin, dem Staatstheater Braunschweig und dem Staatstheater Kassel stehen an, ebenso Projekte mit der Hochschule für Musik und Theater München, im öffentlichen Raum und mit der Volkshochschule München. „On the way“ ist das Motto: Es geht um Mobilität und vom Menschen forcierte Evolution im weitesten Sinn. Digitale Mittel kommen zum Einsatz, auch eine Luxuslimousine als Zuschauerraum.

Viele Mittel bündeln sich zur Darstellung des menschlichen Unterwegssein auf der Zeitachse. Gegen die physische, digitale und mentale Beschleunigung setzt Eva von Redecker in ihrem Motto-Essay „Verkehrshindernisse“ ein Plädoyer für „Bleibefreiheit“ und damit ein Besinnen auf die terrestrischen Grundbedingungen von Zeitlichkeit. Für 2026 und Folgejahre übernehmen die Kulturmanagerin Katrin Beck und die Komponistin Manuela Kerer die Biennale-Leitung. Die erste Uraufführung einer Auftragskomposition war in der Muffathalle Lucia Ronchettis Uraufführung „Searching for Zenobia“. Andauernder nachdenklicher Applaus.

Szenenbild zu „Searching for Zenobia“
Szenenbild zu „Searching for Zenobia“

Fülle der Vielfalt

In den letzten Jahren hat die italienische Komponistin – Jahrgang 1963 – die mitteleuropäische Musiktheater-Landkarte kontinuierlich mit einem immer dichteren Netz ihrer performativen Präsenz überzogen. Ronchetti ist die Vertreterin einer Generation, in welcher ein „offener“ Begriff des Musiktheaters von einer postmodernen Splitterform zu einer selbstverständlichen Form wurde, in dem Thema und Inhalt die Wahl der Besetzung, der künstlerischen Mittel und ihrer Proportion im Werk leiten. Ronchettis umfangreiches Ouevre reicht von Werken für Laienchöre bis zu komponierten Essays an intellektuellen Hotspots wie der Biennale Venedig, deren Musiksparte sie zudem kuratiert. Für das Theater Duisburg setzte sie mit „Das fliegende Klassenzimmer“ eine Hommage zum 50. Todestag von Erich Kästner; und ihre am 24. April bei den Schwetzinger SWR Festspielen uraufgeführte Dostojewski-Vertonung „Der Doppelgänger“ folgt bald am Theater Luzern.

Szenenbild zu „Searching for Zenobia“
Szenenbild zu „Searching for Zenobia“

Gutes Zeitfenster für Musiktheater-Reportage

Nur fünf Wochen nach der Schwetzinger Uraufführung jetzt also gleich Ronchettis mit fast reportagehafter Rasanz produziertes „Musiktheater für Mezzosopran, Schauspielerin, syrische Vokalistin, Frauen-Vokalensemble, Streicher und syrischen Perkussionisten“. Die Entstehungsbedingungen von „Searching for Zenobia“ waren nahezu ideal. Vom September 2022 bis Juni 2023 tasteten sich der syrische Librettist Mohammad Al Attar und Ronchetti mit den syrischen Solisten an ihren subtilen Inhalt mit Zeit für Vertiefungen heran, setzten einen Stein nach dem anderen ins flächige Mosaik. Ein Streichsextett des Staatstheaters Braunschweig und sechs Vokalistinnen aus dem Damenchor des Staatstheaters Braunschweig sind in Entsprechung. Die syrische Vokalistin Mais Harb und der syrische Schlagzeuger Elias Aboud agieren dagegen als Solitäre. Sie alle sind in die schlichte Choreographie von Isabel Ostermann verwoben. Ausdrücklich dankt Ronchetti der Braunschweiger Operndirektorin und Regisseurin für deren Fähigkeit, „äußere und innere Konflikte zu sehen und zu analysieren“, auch „Lösungen zu finden“.

Szenenbild zu „Searching for Zenobia“
Szenenbild zu „Searching for Zenobia“

Der lange Steg

Das Publikum sitzt in der Muffathalle auf Podesten an den Längsseiten. Nähe, Distanz und Perspektiven sind äußerst vielfältig und waren in dieser Hörform erwünscht. Das gilt auch für die dynamische Gewichtung der Gruppen durch die Dirigentin Susanne Blumenthal. Auf dem langen Steg mit Erhebungen finden sich eine Bank und ein Wasserbecken. Eine Schwimmweste, Zeichen für Risiken einer Flucht, und ein Buch sind die wichtigsten Requisiten. Das Buch enthält die Aufzeichnungen der Archäologin Zeina. Sie ist aus Syrien nach Deutschland gekommen, ihre Tochter Leila hier aufgewachsen. Zwischen der Tochter und der in dieser Inszenierung sehr jungen Mutter gab es Konflikte, weil diese Zeinas ständige Erinnerungen an Syrien nicht mehr aushielt und ihre eigene Identität finden wollte. Erst im Endstadium von Zeinas tödlicher Magenkrankheit versichern sich Mutter und Tochter wieder ihrer Gefühle. Zeidas beruflicher Lebensinhalt war die antike Königin Zenobia. Die syrische Vokalistin Mais Harb singt erst für diese Figur der Vergangenheit, verschmilzt dann in einer sehr opernhaften, wenn auch musikalisch verhaltenen Schlussszene mit Zeinas Tochter.

Szenenbild zu „Searching for Zenobia“
Szenenbild zu „Searching for Zenobia“

Diese Sterbenische von Ronchettis Partitur ist im Mittelpunkt der von Stephan von Wedel durch die Muffathalle gezogenen Steg-Topographie. Es sind meist weiche Übergänge zwischen den Gruppen, die Härten entstehen durch die Aussagen und weniger durch komponiertes Schreien.

Erinnern mit barocken Restspuren

Die Figur tritt mit Zitaten aus Tommaso Albinonis Oper „Zenobia, regina di Palmireni“ aus dem Jahr 1694 auf. Milda Tubelytė singt eine Koloraturarie. Vor sich trägt sie einen goldenen Amazonenpanzer. – Der Autor Mohammad Al Attar hat keineswegs an eine zielstrebige Struktur gedacht. Das 2015 von ISIS zerstörte Palmyra ist nicht nur ein traumhafter Nostalgieort in den Köpfen schöngeistiger Europäer, sondern in der Lebensrealität Einheimischer vor allem Standort der Tadmur-Gefängnisse, in denen grausame Folterungen an Dissidenten vollzogen wurden.

Szenenbild zu „Searching for Zenobia“
Szenenbild zu „Searching for Zenobia“

Die Archäologin Zeina nennt sich selbst einen „Zirkusaffen“ der deutschen Kulturszene, empfindet ihre Führungen über (alt-)syrische Kunst im Museum für andere Geflüchtete nicht nur als Angebot, sondern auch als subtile Ausgrenzung. Dieser Konflikt bedrängt sie noch mehr als die Auseinandersetzungen mit der Tochter. Die Zitate aus der Barockoper sind keine Selbstversicherung zur Stärkung einer kulturellen Gewissheit, sondern stehen neben Elias Abouds sanften Rhythmen. Gegen die Thesen und die affirmative Faktensicherheit setzen Ronchetti und Al Attar eine Recherche mit Analogien zur Vergangenheit, emotionaler Intensivierung und letztlich mit Vertrauen an das Gute im Menschen, an Fähigkeit zu Einsicht und Hoffnungen.

Münchener Biennale
Ronchetti: Searching for Zenobia. Musiktheater für Mezzosopran, Schauspielerin, syrische Vokalistin, Frauen-Vokalensemble, Streicher und syrischen Perkussionisten.

Susanne Blumenthal (Leitung), Isabel Ostermann (Regie), Stephan von Wedel (Bühne & Kostüme), Sarah Grahneis (Dramaturgie), Liga Korne (Assistenz Musikalische Leitung), Naima Laube, Milda Tubelytė, Mais Harb, Elias Aboud, Sechs Vokalistinnen des Damenchors des Staatstheaters Braunschweig, Streichensemble des Staatsorchesters Braunschweig

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