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Opern-Kritik: Münchener Biennale – Shall I Build a Dam? / Nimmersatt

Klug, schön, hässlich, flach

(München, 3.6.2024) Mit „Shall I Build a Dam?” und „nimmersatt“ haben gleich zwei Uraufführungen der Münchener Biennale Wasser und Nahrung zum Thema – mit sehr unterschiedlichem Erfolg.

vonRoland H. Dippel,

Zwei Uraufführungen der Münchener Biennale für Neues Musiktheater widmen sich den Ressourcen Wasser und Nahrung. Die Resultate gelangen unterschiedlich. „nimmersatt“ zeigte Witz und einen tollen Umgang mit den Rahmenbedingungen. „Shall I Build a Dam?“ hatte Längen und kreative Löcher. Das weltgrößte Uraufführungsfestival dauert noch bis zum 10. Juni.

Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale

„Shall I Build a Dam?“ mit geringem musikalischem Nachdruck

2023 erhielt Simone Aughterlony den Kulturpreis des Kantons Zürich für unermüdliche performative Tätigkeiten seit 2006. Eines muss man ihr zugestehen: Die australisch-schweizerische Künstlerin ist radikal und hat Mut zur Hässlichkeit. Die Parameter Performance und Musik sollten zum gemeinsamen Uraufführungsprojekt „Shall I Build a Dam?“ der Münchener Biennale und der Deutschen Oper Berlin weitgehend Autonomie bewahren. Also wurden die musikalischen Beiträge von Kai Kobayashi von der Rauminstallation zwar in den Fokus gesetzt, blieben in der Wahrnehmung trotz Mischpult-Hilfe ziemlich peripher. Das Fragmentierte, Assoziative und Dissoziierende der Klänge der Postgraduierten-Studentin von Gordon Kampe in Hamburg, das Vermischende mit Geräuschen blieb Illustration mit leider nur viel zu geringem musikalischem Nachdruck.

Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale

Wasser überall

„Soll ich nen Damm bauen…“ greift eine Stimme den englischen Originaltitel „Shall I Build a Dam?“ auf. Möglicherweise wird die schwarze Raumbox der Tischlerei in der Deutschen Oper Berlin den klinisch sterilen Eindruck im Münchner Aufführungsort schwere reiter etwas mildern. In vier Kreisen kann das Publikum um einen Flügel, Musikinstrumente und wasserbezogene Gerätschaften sitzen. Das wirkt so, als sei das Wechseln von Plätzen angeboten. Aber dieses Angebot nimmt niemand wahr. In den 80 Minuten ermüden die Blicke der Zuschauer, der Applaus einiger Unermüdlicher kaschiert am Ende nur schwerlich Distanzbedürfnisse. Warum?

Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale

Wasser- und Gedankenrinnsale

„Wasser in ständigem Fluss, steht für Austausch und Verwandlung“ beginnt die dramaturgische Liturgie für „Shall I Build a Dam?“. Sie beschwört „die kosmologische Dimension jenes Elements, das alles Leben auf dieser Erde in Beziehung zueinander setzt“ – und zwar „aus einer posthumanen hydro-feministischen Perspektive“. Inhaltlich wird leider wenig geklotzt und dafür viel gekleckert. Noa Frenkel und Chiara Annabella Feldmann brillieren als Virtuosinnen der feinsten allmählichen Übergänge vom Flüstern ins Ächzen, vom Raunen ins vage Singen, des verheißungsvollen Schreitens und Tänzelns zwischen bedeutungsschwangeren Verrichtungen. Wegmanns Kostüme zitieren Uniformen, die ausladenden Hüftbögen von Oskar Schlemmers Triadischem Ballett und dystopische Science-Fiction. Inspiriert wurde das Musiktheater durch die Schrift „Bodies of Water: Posthuman Feminist Phenomenology“ der feministischen Kulturtheoretikerin Astrida Neimanis.

Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Shall I Build a Dam?“ bei der Münchener Biennale

Wasser als Symbol und Requisit

Die Figuren in ihren Trikots, welche in Tattoo-Ästhetik und Dreckfarben Muskelbahnen zeichnen, sind natürlich mit den Materialien verwachsen. Am Ende bietet man Cocktails mit Wasser, was wie ein Teil der geschmolzenen Requisiten-Drecksbrühe anbrütet, willigen Vorstellungsgästen. Einige Anwesende kneifen spätestens da fest ihre Lippen zusammen. Gerade die Schweizer Herkunft von Simone Aughterlony drängt durch zum Teil an den Ausführenden heftenden Rohren, Schläuchen und Brauseköpfen zum Vergleich mit dem eher patriarchal geprägten Horror-Techno-Schamanen HR Giger. Mit Verlaub: „Shall I Build a Dam“ erweist sich auch durch den Ausstatter Joseph Wegmann als ziemlich unappetitliche Angelegenheit mit überreichlichen Griffen nach den Performance-Schablonen aus den letzten fünfzig Jahren. Einen Unterschied gibt es zu nur allzu deutlich erkennbaren Vorbildern mitsamt Testen aus dem Performance-Reservoir von Brecht bis Nietzsche. Die Wirkungsabsicht von „Shall I Build a Dam?“ bleibt unscharf. Provokation ist nicht vorhanden, als Lamento gerät das Werkganze zu lahm und flach.

Szenenbild aus „Nimmersatt“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Nimmersatt“ bei der Münchener Biennale

„nimmersatt“ überzeugt mit origineller Besetzung

Was für ein Kontrast zu dem anderen Stück an diesem Biennale-Montag, das sich ebenfalls der globalen Dimension von Ressourcen widmet. Die Biennale-Produktion „nimmersatt“ der Hochschule für Musik und Theater mit der Medien-Produktion Nightfrog GmbH dröhnt demzufolge impulsiv: Das neueste Musiktheater von heute brauche keine „Hero:innen und Handlungen alten Zuschnitts“, müsse sich räumlich und dramaturgisch von Stereotypen und verengten Perspektiven befreien. Das Schöne aber folgt nach dem Betreten der engen Treppe zum Aufführungsort: Die Alte Utting, ein alter Ausflugsdampfer vom Ammersee wurde von der Verschrottung gerettet und ragt seit 2017 als Eventlocation über eine Straße zwischen Schlachthofviertel und Untersendling.

Für ein originelles Instrumentalensemble und Vokalquartett bedienen sich Jiro Yoshioka und Eve Georges aus verschiedenen Stilen und Epochen. Das klingt mit einem flotten Variantenspektrum und – passend für das Kultstück mit Gebrauchs- und Nostalgiespuren – wie von den Comedian Harmonists arrangierter Bach und Barock. Garniert haben das die Komponistinnen mit anspruchsvollen Salonmusik-Anklängen vom Strandcafé. Das Regie- und Konzeptteam Waltraud Lehner, Paulina Platzer und Alexandra Hermentin arbeiten zwar mit VR-Brillen, bleiben aber auch in der virtuellen Show dem Aufführungsort Alte Utting verbunden. Sie und das gesamte Ensemble sind mit Komödiantik, minimaler Melancholie und pointierter Serviceorientierung, welche zur Inszenierung gehört, bei der Sache.

Szenenbild aus „Nimmersatt“ bei der Münchener Biennale
Szenenbild aus „Nimmersatt“ bei der Münchener Biennale

Musiktheater mit Herz

Im virtuellen Raum durchstromert ein einsames Huhn den Maschinenraum und den Speisesaal der Alten Utting. Alles menschenleer. Später – da wechseln die ästhetischen Mittel Richtung Trickfilm – wirbeln Astronauten im Weltall und kommen wieder zurück. In „nimmersatt“ kommt alles hoch: der agrartechnische Missbrauch und vor allem die vom Turbokapitalismus beschleunigten Desaster der Nahrungsindustrie und Verwertungszyklen, die Überproduktion und die zwangsläufige Gütervernichtung. Aber es bleibt zutiefst menschlich. Denn die ausgewählten, sehr beredten Situationen haben einen hohen Symbolwert auch für alles Nichtgezeigte.

Eng sitzen die 25 Teilnehmenden je Vorstellung auf den Bänken im Maschinenraum. Es wird live musiziert, Technik findet nur in dem Maß Verwendung wie für den Stückverlauf nötig. Aus der Interaktion spürt man die Begeisterung aller Mitwirkenden, ihre Freude an der Berührungsnähe zum Publikum und eine engagierte Energie ohne Floskelhaftigkeit. Es klingt fast banal: Aber in der Alten Utting gelang nach der Biennale-Eröffnung mit Lucia Ronchettis routiniertem Betroffenheitstheater „Searching for Zenobia“ und neben dem hygienisch zweifelhaften Performance-Spektakel „Shall I Build a Dam“ ein kleines Wunder: Musiktheater hatte dort tatsächlich jenes Herz, was der Musiktheater-Standort München so gerne für sich behauptet.

Münchener Biennale
Kobayashi: Shall I Build a Dam?

Simone Aughterlony (Regie, Choreographie, Bühne, Kostüm), Joseph Wegmann (Bühne, Kostüm, Video, Licht), Aslı Ersüzer-Sökmen (Mitarbeit Bühne), Lenna Stam (Mitarbeit Kostüm), Sebastian Hanusa (Dramaturgie), Noa Frenkel, Chiara Feldmann — Thomas Bruns (Künstlerische Leitung Ensemble KNM Berlin), Theo Nabicht (Kontrabassklarinette) Matthias Jann (Posaune), Richard Valitutto (Piano), Annette Riessner (Akkordeon), Kirstin Maria Pientka (Viola)

Yoshioka & Georges: nimmersatt

Henri Bonamy & Markus Hein (Leitung), Waltraud Lehner & Paulina Platzer (Regie), Alexandra Hermentin, Waltraud Lehner & Paulina Platzer (Konzeption), Pove Siersch (Ausstattung), Ilja Mirsky (Digitale Dramaturgie), Alexandra Hermentin (Künstlerische Produktionsleitung), Andreas Ruppert (Musikalische Einstudierung), Janna Lihl (Produktionsleitung „Alte Utting“), Amelie Bissinger, Alfred Ouoba (Licht & Technische Betreuung), Ulli Tischler (Maske), Anton Gruber (Körpercoach), Benedict Mirow (Nightfrog GmbH XR Produktion & XR Beratung), Bashira Cabbara (XR Projektleitung), Carl Amadeus Hiller (XR Camera), Alexander Schmidt (XR Development & Programming), Viktoria Matt, Franziska Weber, Luis Weidlich, Isaac Tolley, Maria Zwerschke, Alice Proffit, Sara Hasti, Moritz Knapp, Maximilian Wolfgang Schwarz, Samuel Weilacher

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