Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wird selbst ein hauptberuflicher Killer noch zum Künstler. Mafioso Cheech wagt den Seitenwechsel, mischt sich in die Proben des neuen Stücks ein, das der verkopft verklemmte David Shane ersonnen hat, dessen Dramen bislang immer nur Flops waren. Dank der Eingriffe gewinnt das Werk die Street Credibility des prallen Lebens der Roaring Twenties. Und siehe da: Die Premiere wird heftig gefeiert, die Kritiker jubeln. Der moralbefreite Cheech bringt für seine Ideale der absoluten Qualität freilich schon mal eben das grässlich begabungsfreie Showgirl Olive Neal um die Ecke bringt, weil sie das Niveau so unsäglich senkt, er wird indes um seinen Ruhm als Kreativer gebracht, den der offizielle Autor einheimst. Und die Kugeln, die er auf das Revuegirl abfeuert, werden nicht die letzten sein, sie treffen am Ende auch ihn.
Eine Abrechnung mit dem Showbiz der Stadt, die niemals schläft
Ja, was Woody Allen da 1994 als Film herausbrachte, ist eine bitterböse Farce, eine Tragödie im Gewande des Komischen, eine Abrechnung mit dem Showbiz der Stadt, die niemals schläft, auch mit dem Wahnsinn des Theaters im allgemeinen, mit seinem Hochmut, seiner Hysterie, seiner Hinterlist. Und seinen Liebesaffären, die emotionalen Neigungen so sehr folgen wie dem ökonomisch Nützlichen.
Jeder Song ist geklaut – und das ist auch gut so
Wo also der Killer in der Story zum wahren Künstler mutiert, ist das Musical zum Film nun seinerseits ein grandioser Diebstahl. Denn die gesamte Partitur ist geklaut, Woody Allen hat die Songs gemeinsam mit der Regisseurin der New Yorker Uraufführung von 2014 aus dem riesigen Repertoire von Jazz- und Swingstandards entliehen. Statt eine Originalpartitur zu besitzen, ist „Bullets over Broadway“ ein Jukebox Musical, das allerhand Evergreens der Black American Music lediglich in der Orchestrierung angleicht, sodass in keinem Moment der dreistündigen Premiere an der Musikalischen Komödie Leipzig der Eindruck von Musik aus zweiter Hand entsteht. Der Abend fließt musikalisch wie aus einem Guss. Das Parodieverfahren, wie es schon zu Zeiten des barocken Bach üblich war, erweist sich somit auch im 21. Jahrhundert als probates Mittel, absolute Authentizität vorzugaukeln.
Dirigent Tobias Engeli entzündet ein Broadway-Feuerwerk
Genialischer musikalischer Inspirator eines aus dem Graben direkt in die Beine gehenden Blues- und Jazz-Sounds ist Tobias Engeli. Der Erste Kapellmeister hat mit dem ganz auf Operette und Musical spezialisierten Orchester der Musikalischen Komödie eine so stilpräzise swingende, in jedem Takt den Geist der Entstehungszeit der Musik beschwörende Interpretation erarbeitet, dass man sich zur Premiere weniger in der sächsischen Musikstadt von Bach, Mendelssohn, Schumann und Wagner wähnte, als vielmehr im schwarzen Amerika der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Tolle Tanzszenen der Choreographin Natalie Holtom im Totaleinsatz
Mit ähnlichem Totaleinsatz hat Natalie Holtom die Tanzszenen gestaltet: Der Step der Mafiamänner wie die Revueeinlagen der leichten Mädchen im besseren Bordell, in dem auch Olive Neal zu Beginn ihre schlanken Beine schwingt, sind eine Wucht an Virtuosität und ein Qualitätsbeweis eines der wenigen verbliebenen staatlich getragenen reinen musikalischen Lustspielhäuser. Die tanzenden und singenden Ensemblemitglieder des Hauses sind Augen- und Ohrenweide. Die Personenregie von Carsten Jung zeichnet indes nicht durchweg scharf zugespitze Komödiencharaktere. Franziska Becker als Helen Sinclair ist ein sich selbst mit raumsprengender Grandezza zur Diva stilisierendes, herrlich exaltiertes Bühnentier. Der Cheech von Justus Seeger gibt ein nie das Klischee vom kleinen Mafiagangster überziehendes heimliches Theatergenie. Jasmin Eberl als Möchtegerntheaterstar Olive Neal zieht die Register des über jedes Fremdwort stolpernden Dummchens gleichsam extrahellblond. Benjamin Sommerfeld als langweilig eitler Dichter David Shayne bleibt der tragikomischen Fallhöhe seiner Figur indes einiges schuldig. Seine Freundin Ellen ist da dank Nora Lentner von anderem Kaliber. Ihrem Sopran gebührt die Auszeichnung der schönsten Stimme des Abends, ihr Emanzipationsprozess vom der braven Begleiterin des sich überschätzenden Schriftstellers zur selbstbestimmten Frau hat echte theatralische Klasse.
Die deutsche Textfassung und ihre etwas platten Schlüpfrigkeiten
Sonst bleibt der Regisseur im Bedienen der deutschen Textfassung von Iris Schumacher und Frank Thannhäuser und ihrer etwas platten Schlüpfrigkeiten mitunter bieder. Eine Nachschärfung von Brüchen – man fragt sich gelegentlich, was ein Barrie Kosky wohl mit dem Woody Allen-Musical angestellt hätte – würde dem Abend guttun, der zumal im ersten Teil bis zur Pause Woody Allens menschenunfreundliche Boshaftigkeit unter affirmativem Musicalzuckerguss zu verdecken droht. Dennoch: In Leipzig ist ein Musical von Rang zu bewundern, das im Art déco-Bühnenbild von Karel Spanha mit all den fantastischen Szenenwechseln wie am Schnürchen abschnurrt.
Musikalische Komödie Leipzig
Woody Allen: Bullets over Broadway
Tobias Engeli (Leitung), Carsten Jung (Regie), Natalie Holtom (Choreographie), Karel Spanhak (Bühne & Kostüm), Benjamin Sommerfeld, Justus Seeger, Franziska Becker, Cusch Jung, Jasmin Eberl, Lora Lentner, Michael Raschle, Melissa Jung, Hans-Georg Pachmann, Peter Waelsch, Chor der Musikalischen Komödie, Chor, Extrachor, Ballett und Orchester der Musikalischen Komödie