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Opern-Kritik: Musiktheater im Revier – Innocence

Unschuldig schuldig

(Gelsenkirchen, 28.9.2024) Kaija Saariahos Meisterwerk „Innocence“ kommt am Musiktheater im Revier zur Deutschen Erstaufführung.

vonMichael Kaminski,

Da hat das Musiktheater im Revier einen veritablen Coup gelandet. Größeren Häusern vorauseilend, haben sich die Gelsenkirchener die deutsche Erstaufführung von Kaija Saariahos sich international auf Erfolgskurs bewegender Oper „Innocence“ an Land gezogen. Und damit ein Werk, das eine die Menschen immer neu bewegende Frage verhandelt, die nach Schuld und Unschuld. Klar ist mindestens, Kinder sind nicht strafmündig. Angesichts ihrer Verfehlungen von Schuld zu sprechen, ist kaum angebracht.

Wie aber bei Jugendlichen auf der Schwelle zum Erwachsensein? Kaija Saariaho und ihre Librettistin Sofi Oksanen siedeln ihre Oper genau dort an. Der junge Mensch, der bei einem Amoklauf seine Mitschülerinnen und Mitschüler massakriert, muss das Gefängnis nicht fürchten. Bei seiner Untat zieht er das gar ins Kalkül. Er landet in der Psychiatrie. Nach zehn Jahren aber hält der Mörder seinen Entlassungsschein in den Händen. Obendrein ist er mit einer neuen Identität versehen. In den überlebenden Opfern aber, deren Eltern und des Täters eigener Familie wirkt die blutberauschte Raserei unauslöschlich nach. Doch spricht die Traumatisierung der Mitschülerinnen und Mitschüler diese ebenso wenig frei von persönlicher Verantwortung wie den Bruder des Amokläufers. Denn dieser und eine Klassenkameradin erweisen sich als Mitwisser auf der Grenze zur Komplizenschaft.

Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier
Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier

„Innocence“ – eine Partitur des puren Thrill

Aus solchem immer wieder überraschend enthüllten Oszillieren zwischen Schuld und Nichtschuld bezieht das Werk seine Grundspannung. Librettistin Oksanen geht mit der Unerbittlichkeit des analytischen Dramas zu Werk. Saariahos Partitur bietet puren Thrill. Glissandi entziehen den Figuren – und mit ihnen dem Publikum – den Boden unter den Füßen. Zuweilen verpasst das Schlagwerk den einen oder anderen Kinnhaken. Kreischt der Klangkörper auf, stellt sich Frösteln ein. Auf nicht minderen Nervenkitzel im Verein mit Beklemmung setzen die Vokalpartien. Weil einer internationalen Schulgemeinde zugehörig, agieren die Überlebenden des Amoklaufs in gleich neun europäischen Sprachen. Kontrastiv lassen Sprechstimme, Operngesang und die jodlerartigen Rufe finno-ugrischen Folks – wie überhaupt die Naturstimme – das Gemüt erschauern.

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Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier
Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier

Szenische Mildewaltung

Kein Zweifel, Saariahos und Oksanens Musiktheater-Thriller bietet eine Steilvorlage für die Bühne. Elisabeth Stöppler bedient sich ihrer oft recht passgenau. Wenn sich freilich die Überlebenden zehn Jahre nach der Bluttat treffen und zugleich der Bruder und Beinahe-Komplize des Amokläufers seine Hochzeit mit einer nichts Übles ahnenden Frau von weit her feiert, zeigen sich die Sphären beider Zusammenkünfte von Anbeginn allzu vermischt, um sukzessive für Entsetzen über die schrittweisen Enthüllungen zu sorgen. Zudem gewährt Stöppler der in der Imagination ihrer Mutter Tereza über die Bühne geisternden Markéta ein übertriebenes Maß an Schonung. Das vom Amokläufer erschossene Mädchen hatte diesem in Spottliedern, wie sie in Karelien in Umlauf sind, mit einer Boshaftigkeit zugesetzt, die ihn vor der gesamten Schulgemeinde kompromittierte. Derlei Ausweichen vor den Härten und Zuspitzungen des Werks mündet final in die Bagatellisierung jener Mühen, die es kostet, Traumata zu überwinden, um sich in ein gelingendes Leben aufzumachen. Auch Ines Nadlers funktionale Bühne wartet wenig bestimmt auf: mit einem zweigeschossigen Gerüst, dessen Zwischenräume sich teils bunt verblendet zeigen. Im Hintergrund prangt ein Schriftzug mit dem Titel der Oper. Stühle und Tische deuten einen Klassenraum an. Auf Hochzeit respektive Schulkontext verweisen Frank Lichtenbergs Kostüme.

Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier
Szenenbild aus „Innocence“ am Musiktheater im Revier

Überragendes Ensemble

Musikalisch wissen die Gelsenkirchener zu fesseln. Das Chorwerk Ruhr wird durch Sebastian Breuing zu vokalen Einwürfen wie aus der Geisterwelt beflügelt. Aus dem Graben lässt Valtteri Rauhalammi mit der Neuen Philharmonie Westfalen das Blut in den Adern stocken und es eiskalt durch Mark und Knochen rieseln. Vokal überbietet das Ensemble des Musiktheaters im Revier locker den Nervenkitzel der meisten „Tatorte“. Bedrückend, wie die Tereza verkörpernde Hanna Dóra Sturludóttir lange nicht von der Imagination ihrer ermordeten Tochter loskommt. Jener Markéta, die sich als ihre Mitschüler mobbendes Biest erweist. Virtuos lässt Erika Hammarberg dafür finno-ugrischen Folk zum Rufmord mutieren. Mit mühelos ansprechendem Sopran gibt Margot Genet die zunächst nichtsahnende und später zunehmend entsetzte Stela, die Braut von des Amokläufers mitwisserischem Bruder. Für diesen bietet Khanyiso Gwenxane tenorale Emphase auf.               

Musiktheater im Revier
Saariaho: Innocence

Valtteri Rauhalammi (Leitung), Elisabeth Stöppler (Regie), Ines Nadler (Bühne), Frank Lichtenberg (Kostüme), Patrick Fuchs (Licht), Jörg Debbert (Ton), Sebastian Breuing (Chor), Hanna Dóra Sturludóttir, Margot Genet, Katherine Allen, Khanyiso Gwenxane, Benedict Nelson, Philipp Kranjc, Anke Sieloff, Erika Hammarberg, Bele Kumberger, Elisa Marcelle Berrod, Sebastian Schiller, Pablo Antonio Alvarado Mejia, Danai Simantiri, Chorwerk Ruhr, Neue Philharmonie Westfalen






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