Ein wahres Monstrum von Mensch rollt da in einer märchenhaften royalen Kutsche auf die Bühne des Nationaltheater Mannheim. Ist es der Sonnenkönig höchstpersönlich, der in grenzenloser absolutistischer Selbstgewissheit von sich behauptet haben soll: „L’État, c’est moi“? Der Staat bin ich? Und dabei unausgesprochen mitschwingen ließ: „Das Theater bin ich natürlich auch!“ Im etwas anderen Vorspiel zu Rameaus barockem Opernschmaus „Hippolyte et Aricie“, den Lorenzo Fioroni als fantastisches Feuerwerk der Fantasie anrichtet, brüllt das extra üppig perückte königliche Monster den legendären Satz ein ums andere Mal in den noch musiklosen, dafür performanceprall und farbenfroh gefüllten Raum.
Ungeahnte Sprengkräfte sind in Jean-Philippe Rameaus Partitur
Eine Truppe von recht heutigen Demonstranten hält ihm Transparente entgehen, auf denen Devisen wie „Le Désir“ stehen: Das Verlangen nach Grenzüberschreitung, auch nach körperlicher, ja sexueller Entfaltung bricht sich Bahn. Das Ancient Règime als in die Jahre gekommenes Altes Recht einer anmaßenden aristokratischen Minderheit ist zwar noch in Amt und Würden, die Dekadenz des Systems und seiner freßsüchtigen Vertreter ist freilich nicht zu übersehen. Die Revolution als Ausbruch zu einer neuen freien Welt ist zwar anno 1733, als „Hippolyte et Aricie“ die Pariser Uraufführung feierte, noch kaum denkbar. Doch die ungeahnten Sprengkräfte sind in Jean-Philippe Rameaus Partitur zwischen den Notenzeilen dennoch längst zu spüren.
Staatstragende Opernaktion und sich eruptiv entladender leidenschaftlicher Tanz auf dem Vulkan des Musiktheaters
Streng schreitende Menuette, mit denen die feine Gesellschaft sich selbst feiert, wechseln munter mit rhythmisch entfesselten Tänzen des erwachenden Volks, das ein Bewusstsein seiner selbst immer mehr ausprägt. Die geordnete staatstragende Opernaktion und der sich jederzeit eruptiv entladende leidenschaftliche Tanz auf dem Vulkan des Musiktheaters gehen Hand in Hand. Regisseur Fioroni und sein Team um die einmal mehr in ihrer sprudelnden Kreativität preisverdächtige Kostümbildnerin Katharina Gault und Bühnenbildner Paul Zoller pendeln nicht nur dieses durchweg hoch politische Spannungsfeld lustvoll aus. Denn die spektakelnde Opulenz der Inszenierung ist niemals Selbstzweck oder bloß affirmatives Bebildern barocker Üppigkeit. Sie ist dialektisch durchdacht und durchpulst, sie schlägt in Gesten, Posen und Affekten genialisch runde Brücken vom genregemäßen mythologischen Antikentheater der ach so allzu menschlichen Götterfiguren Diana und Jupiter zu den ganz heutigen, der Liebeslust verfallenen Wesen Hippolytos (Hippolyte) und Arikia (Aricie).
Zeitgenossenschaft des barocken Lebensgefühls
Die Produktion spürt so spielerisch leichtgängig auch jene Parallelen auf, durch die wir die Zeitgenossenschaft des barocken Lebensgefühls und Theatergeistes vor Augen und Ohren geführt bekommen. Denn sind das stereotype sich In-Szene-Setzen und Ausstellen von Affektmomenten im Barocktheater von dereinst und in den Sozialen Medien wie auch der Popkultur von heute nicht höchst verwandte Phänomene? Sängerdarsteller von nachgerade exibizionistischer Freude am Rollenspiel machen möglich, dass Lorenzo Fioroni in seiner handwerklich grandiosen, perfekt ausgefeilten Personenregie kaum wahrnehmbare pandemiebedingte Einschränkungen hinnehmen muss.
Fulminante Furie der eifersüchtigen Liebe
Welch ein grandioses Ensemble! Das eingangs erwähnte königliche Monstrum, das offiziell Jupiter und Pluton darstellt, insgeheim aber doch deutlich als herrliche Karikatur Ludwig XIV. erkennbar ist, leiht Patrick Zielke die Wucht seines Körpers wie seines imposanten Bassbaritons. Phaidra (Phèdre) ist dank der dramatisch sopranlodernden Sophie Rennert eine fulminante Furie der eifersüchtigen Liebe, mit der sie den eigenen Stiefsohn begehrt. Von der jungen Sängerin wird man an den größten Opernhäusern bald fraglos mehr hören. Ihrem sittenstrengen Ehemann Theseus (Thésée) leiht Nikola Diskić seinen klangschön kultivierten Kavaliersbariton. Soprangeschmeidig keck ist Amelia Scicolone eine aufreizend verführerische Arikia (Aricie). Ihrem tenoralen Liebhaber Hippolytos (Hippolyte) schenkt Charles Sy seine mit üppigen Kopfstimmenresonanzen geadelte, mühelos überströmende, ja betörende Stimme.
Funken sprühen aus jeder Pore der Partitur
Die klug gekürzte Mannheimer Fassung, die auf Rameaus Version von 1733 beruht, bewahrt den Mix aus traumhaften Arien, Ballett-Divertissements und Chören ohne größere Verluste. Das Nationaltheater-Orchester Mannheim lässt sich dank des ausgewiesenen Experten am Pult, Bernhard Forck, hingebungsvoll auf Rameaus Stilistik ein. Die wunderbar variable Komposition sprüht geradezu Funken, ihr rhythmisches Ungestüm und ihre harmonische Kühnheit dringen in derart hoch inspirierter Vitalität an die Ohren des digital lauschenden Publikums, dass man sich in eine persönliche Anwesenheit im Saal hineinsehnt und hineinträumt – und eine Einheit aus Musik und Szene genießt, die nur dann entstehen kann, wenn sich echte Meister aus beiden Sphären kompromisslos auf das Werk und dazu auch aufeinander einlassen. Welch ein Glück, dass solche Musiktheater-Erfüllung – absolut barock und vollkommen gegenwärtig – in schweren Zeiten dennoch gelingen kann!
Nationaltheater Mannheim
Rameau: Hippolyte et Aricie
Bernhard Forck (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie), Paul Zoller (Bühne), Loriana Casagrande (Ko-Bühnenbildnerin), Katharina Gault (Kostüme), Pascale-Sabine Chevroton (Choreografie), Damian Chmielarz (Licht), Cordula Demattio (Dramaturgie), Estelle Kruger, Amelia Scicolone, Sophie Rennert, Marie-Belle Sandi, Charles Sy, Nikola Diskić, Uwe Eikötter, Patrick Zielke, Christopher Diffey, Raphael Wittmer, Marcel Brunner, Chor, Statisterie und Bewegungschor des Nationaltheaters Mannheim, Nationaltheater-Orchester Mannheim