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Opern-Kritik: Nationaltheater Mannheim – Infinite Now

Grandiose Zumutung

(Mannheim, 26.5.2017) Komponistin Chaya Czernowin und Regisseur Luk Perceval lassen Hoffnung durch Gesang verströmen

vonAndreas Falentin,

Diese Uraufführung erwischt einen voll – oder man wird gehen, lange bevor die pausenlosen zweieinhalb Stunden vorbei sind. „Infinite Now“ ist eine brennend intensive Meditation über Bedrohungen des Lebens durch Krieg, Angst und unumkehrbare Fremdbestimmung. 2014 hat Luk Perceval aus belgischen Frontbriefen aus dem Ersten Weltkrieg und Passagen aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ das Stimmengewirr „Front“ kompiliert und am Hamburger Thalia Theater höchst erfolgreich uraufgeführt. Jetzt hat er diesen Text gleichsam weiterentwickelt. Zusammen mit der Komponistin Chaya Czernowin hat er „Front“ mit „Homecoming“, einer Novelle der chinesischen Autorin Can Xue über eine Frau, die ein oft besuchtes Haus nicht mehr verlassen kann, verschränkt. Damit hat er die Atmosphäre von Hoffnungs- und Ausweglosigkeit, die „Front“ dominierte, aus dem historischen Kontext gelöst.

Knisternde Glasscherben und beängstigende Schleif- und Klopfgeräusche

Szenenbild aus "Infinite Now"
Infinite Now/Nationaltheater Mannheim © Hans Jörg Michel

Als Beschreibung eines „nackten Zustands“ bezeichnet Czernowin ihre dritte Oper, eine Auftragsarbeit der Flandrischen Nationaloper und des Deutschen Nationaltheaters Mannheim. Sie hat eine erbarmungslose Musik geschrieben, die dominiert wird von vorproduzierten Klangmodulen, von knisternden Glasscherben über beängstigende Schleif- und Klopfgeräusche und Naturlaute bis hin zu aufgenommenen Stimmen und leisestmöglichen synthetischen Geräuschen. Deren sich zwischen Aggression und Stille hin und her bewegende Anmutung wird gestützt und überformt vom Orchester, in dem sich die Bläser oft tonlos hauchend zu artikulieren haben. Für Klanginseln sorgen eine Gitarre, eine E-Gitarre und zwei Celli.

Opfer von Zeitläuften und Schicksalsschlägen

Auf der Bühne sind im abstrakten, schwarz-weißen Raum sechs Sänger und sechs Schauspieler durchgängig anwesend. Sie spielen keine Rollen, erschaffen keine Figuren. Sie singen oder sprechen virtuos Texte in vier Sprachen, bewegen sich. Trotz dieser extrem reduzierten Personenführung entsteht nie der Eindruck von Uniformität. Stets hat man den Eindruck, hier Menschen zu begegnen, die Schicksale erleiden, Opfer sind von Zeitläuften und Schicksalsschlägen, allein sind und nichts anderes tun können, als andere Menschen wahrzunehmen. Und das tun sie, mit aller Kraft und aller Disziplin.

Szenenbild aus "Infinite Now"
Infinite Now/Nationaltheater Mannheim © Hans Jörg Michel

Unaushaltbar dichte Atmosphäre

So entsteht eine fast unaushaltbar dichte Atmosphäre, wesentlich gestützt durch das Dirigat von Titus Engel, der präzise koordiniert und alle Mitwirkenden stützt und befeuert. Fundament des Klangs von „Infinite Now“ sind die vorproduzierten Sounds, sein Zentrum ist an diesem Abend, wie selten in der Neuen Musik, der Gesang. Bariton, Mezzosopran und Countertenor begleiten zunächst, bis sich die Textebenen vermischen, die „Front“-Geschehnisse. Sie sind fabelhaft aufeinander abgestimmt, erschaffen berauschend schöne Klangmomente. Besonders Terry Weys betörend hohe Elegie aus dem fünften Akt hallt nach. Noch mehr Raum erhält das andere Trio. Der junge Bassist David Salsberry Frey begeistert mit extrem sinnlichen, fast unmöglich klingenden tiefen Tönen, Karen Vourc’h bannt den Zuschauer geradezu mit ihrer insistierenden Präsenz und ihrem wie gläsern schwebendem Sopran, und der Alt von Noa Frenkel ist ein ganz eigenes Wunder. Pastos und scharf artikulierend, Opfer und Vermittler in einem, macht sie die bizarren Erlebnisse aus „Homecoming“ fast zu einer Art Passion, vorbestimmt aber nicht verschuldet.

Szenenbild aus "Infinite Now"
Infinite Now/Nationaltheater Mannheim © Hans Jörg Michel

400 Jahre alte Gattung beherzt ins 21. Jahrhundert fortgeschrieben

Die singende Stimme ist Hoffnungsträger in „Infinite Now“, Träger von Lebensmut, Kampfeswille und Gemeinschaftlichkeit, Blick auf und Bestätigung von Schönheit. Wie es in der Oper immer war. Das macht „Infinite Now“ bei aller Zumutung, die Werk und Inszenierung auf fast jeder Ebene bieten, bei allen Anstrengungen, die dem Zuschauer abverlangt werden, zu einem der wenigen Stücke, die diese vierhundert Jahre alte Kunstgattung bewusst ins 21. Jahrhundert fortschreiben.

Nationaltheater Mannheim
Czernowin: Infinite Now

Titus Engel (Leitung), Luk Perceval (Text & Regie), Philip Bußmann (Bühne & Video), Ilse Vandenbusche (Kostüme), Karen Vourc’h, Ludovica Bello, Noa Frenkel, Terry Wey, Vincenzo Neri, David Salsberry Frey (Sänger), Rainer Süßmilch, Benjamin-Lew Klon, Didier de Neck, Gilles Welinski, Roy Aernouts, Oana Solomon (Schauspieler), Orchester des Nationaltheaters Mannheim

Termine: 26. (Premiere) & 31.5., 7. & 18.6.

Sehen Sie hier einen Produktionseinblick zu „Infinite Now“

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