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Opern-Kritik: Nationaltheater Mannheim – La Traviata

Wie ich die Welt sehe und wie sie mich sieht

(Mannheim, 9.11.2024) Das Nationaltheater Mannheim erforscht mit „La Traviata“ das Klangprofil ihrer neuen Interimsspielstätte OPAL. Sopranistin Seunghee Kho debütiert als Violetta facettenreich und dominant.

vonPatrick Erb,

Darf die Liebe zu einer Kurtisane über dem tadellosen Ruf der Familie stehen? Dieser grundsätzlichen Frage nach dem Stand in der Gesellschaft stellen sich die Protagonisten Marguerite Gautier und Armand Duval in „Die Kameliendame“. Der teilweise autobiografisch motivierte Roman über die Pariser Halbwelt brachte Alexandre Dumas (Sohn) zu Weltruhm und inspirierte Giuseppe Verdi zu einer seiner bekanntesten Opern. Das Nationaltheater Mannheim, das bereits vergangenen Monat mit einem Pasticcio seine langjährige Interimsspielstätte OPAL (Oper am Luisenpark) feierlich eröffnet hatte, bringt mit „La Traviata“ nun die erste ordentliche Produktion auf die Bühne. Regisseurin Luise Kautz greift dort die fast philosophische Grundfrage Dumas auf und macht sie zur bildlichen Grundlage ihrer Inszenierung.

Szenenbild aus „La Traviata“
Szenenbild aus „La Traviata“

Zwei Welten

Wenn Violetta Valéry in der versnobten Pariser Gesellschaft verkehrt – bei der Feier in ihrem Salon im ersten Akt sowie beim Ball im Palast der Flora im zweiten Akt –, wählt Kautz Elemente mit moderner Optik. Sitzbänke, Bartresen, die Gewänder der meisten Gäste, dazu reichlich Lametta und eine Disco-Kugel: Alles flimmert, leuchtet und erstrahlt in silbrig-grauem, aber kaltem Chic. Ein ähnliches Bild bietet sich beim Ball, ergänzt allerdings um die grotesken holzschnittartigen Kostüme der Feiernden.

Die intimere Privatsphäre von Violetta und Alfredo liest Kautz historisierend und nostalgisch und damit in seiner Ästhetik näher am Roman. Zwischen François Boucher und einem Entwurf für ein Badehaus Karl Theodors von der Pfalz verortet, lädt das Rokoko-Landhaus in Pastellfarben gehüllt und mit Putten bemalt regelrecht zum Schäferstündchen ein. Schließlich wird im letzten Akt das Schlafzimmer Violettas als tragisch-ironischer Symbolismus zur Familienkrypta mit gotischem Holzschrein umgedeutet. Deutlich zeigt sich hier die Abweisende, fast gleichgültige Kälte der Öffentlichkeit im Vergleich zum Privaten, wo der eigentliche Konflikt zwischen Violetta, Giorgio Germond und Alfredo Germond stattfindet.

Szenenbild aus „La Traviata“
Szenenbild aus „La Traviata“

Instinktiver Verdi

Der bipolaren Welt Violetta Valérys wird auch Mannheims GMD Roberto Rizzi Brignoli in souveräner Formvollendung gerecht. Der gebürtige Italiener hat seinen Verdi offensichtlich mit der Muttermilch aufgesaugt, denn instinktiv führt er sein Ensemble durch den Premierenabend. Die Ouvertüre gleitet unter Brignolis Leitung in honigsüßen, weichen Tönen dahin, durch intuitive Gesten belebt er seine „La Traviata“ mit körperlicher Fülle, ohne jedoch eklektisch zu wirken. Den nicht wenigen Chorszenen drückt er mit sorgsam gewählter dynamischer und rhythmischer Vielfalt deutlich seinen Stempel auf – langweilig wird es dadurch nie.

Ein Großteil des Ensembles profitiert zudem von der gelungenen Akustik des Hauses. Der Saal erinnert in seiner klaren und gesättigten, jedoch eher bassarmen und nüchternen Akustik an die Isarphilharmonie. Deutlich kommen Klänge in Tenorlage zur Geltung, wohingegen der Diskant unter einer gewissen Viskosität leidet, was vor allem die Geigen etwas beeinträchtigt.

Szenenbild aus „La Traviata“
Szenenbild aus „La Traviata“

Nachteile einfach wegsingen

Tenor Sung Min Song als Alfredo lässt sich dabei von der Klangarchitektur tragen und erzielt allein mit klarer Artikulation eine überzeugende Wirkung. Stimmlich ist Song ein Heldentenor mit schauspielerischen Pinkerton-Allüren, die sich aber in die Jetset-Logik der Ensembleszenen gut einfügen. Seunghee Kho feierte am Abend als Violetta ihr Rollendebüt mit großem Erfolg. Als angesehene Salonière, dann Ver- und Geliebte und schließlich als Totkranke wechselt das Stimmfach der Violetta ständig. Darüber hinaus muss sich der Sopran in diesem Haus mit etwas mehr Stimmdruck gegen den Tenor durchsetzen, um nicht unterzugehen. Schließlich komplettiert Nikola Diskić das Protagonistentrio als Giorgio Germont mit umarmendem väterlichem Bariton. In dieser zurückhaltenden, doch unterhaltsamen Inszenierung gelingt dem Nationaltheater Mannheim ein überzeugender Auftakt in der neuen Spielstätte OPAL.

Nationaltheater Mannheim (OPAL)
Verdi: La Traviata

Roberto Rizzi Brignoli (Leitung), Luise Kautz (Regie), Valentin Mattka (Bühne), Adrian Bärwinkel (Licht), Nicole Berry Licht, Luches Huddleston Jr. (Choregrafie), Alistair Lilley (Chor), Eszter Orbán (Dramaturgie), Seunghee Kho, Sung Min Song, Nikola Diskić, Ruth Häde, Yaara Attias, Christopher Diffey, Nationaltheater-Orchester Mannheim






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