Von den großen Turbulenzen hinter den Kulissen war bei der Premiere von Bedřich Smetanas „Dalibor“ im Nationaltheater Prag nichts zu spüren. Am Tag vorher riefen (so gemeldet von Radio Praha) die Gewerkschaften der Opernschaffenden Streikbereitschaft aus, Grund dafür sei eine „undurchsichtige und konzeptlose Leitung des Theaters“. Man äußert massive Vorbehalte gegen den neuen künstlerischen Leiter Per Baye Hansen, der seine Tätigkeit mit Beginn der Spielzeit 2019/2020 aufnimmt. Im Frühjahr hatten etwa 350 Mitarbeiter in einem offenen Brief an den Intendanten Jan Burian ihr Misstrauen ausgesprochen. Die amtierende Operndirektorin Silvia Hroncova kündigte und nannte als Grund unvereinbare Positionen. Im Januar 2020 steht Großes an: Da soll die die renovierte Staatsoper wiedereröffnet werden.
Dalibor: Titelheld mit Doppelleben
Mehrfach wurde die Premiere von eruptivem Applaus durchbrochen – und von einem gellenden Buh an den beliebten Bariton Adam Plachetka ausgerechnet nach der Arie, in der König Vladislav von einer menschlichen Blütezeit träumt. Was war geschehen? Bei der Verkündigung des Todesurteils für den Freiheitskämpfer Dalibor ist König Vladislav unter der umgeschlagenen Flagge mit dem böhmischen Löwen fast nackt.
Über Politik und persönliche Glücksvorstellungen hat er räsoniert, umgeben von Wellness-Priesterinnen in Weiß wie ein römischer Kaiser in einer Therme. Also kein Kriegstreiber. Trotzdem muss der lautere Kerkermeister Beneš mit den langen eisernen Schlüsseln diesmal zur eigenen Hinrichtung. Wer da buhte, musste sich schwer getroffen fühlen, selbst wenn die Bildsprache der Neuinszenierung störungsfrei dekorativ und somit keineswegs verstörend ist.
Die feine Ironie beim ersten Auftritt währt leider nicht lange
Jiří Nekvasil und Daniel Dvořák zeigen die Story wie im „Herbst des Mittelalters“, garniert mit wenigen etwas moderner anmutenden Mitteln. Etwa wenn Milada und ihre ausdruckstänzelnden Begleiterinnen ein Porträtfoto von Miladas getöteten Bruder auf den Röcken haben und Dalibor eine achtköpfige Rittertruppe in voller Rüstung mit gefährlichen Schnabelhelmen und Kniedorn begleitet wird. Die feine Ironie beim ersten Auftritt währt nicht lange, schade.
Diese Oper am Originalschauplatz wird zum Opfer eines Details im von Ervín Špindler aus dem Deutschen ins Tschechische übertragenen Textbuchs von Josef Wenzig, das Roland Schwab in seiner Augsburger Inszenierung deutlich und Florentine Klepper in Frankfurt ansatzweise thematisiert hatte: Dalibor hängt wie ein Liebender an seinem getöteten Freund Zdenko, der schon zu Beginn der Oper tot ist, aber mit edelster Erinnerungsmotivik das musikalische Zepter schwingt, bis am Schluss sein Motiv verklingt. Da haucht dann die edle Milada ihre Seele aus.
Im Programmheft wird Otokar Fischer zitiert, der über eine Anfang des 20. Jahrhunderts gespielte Fassung schreibt, Dalibor und Zdenko seien einander zugetan wie Achilles und Patroklos. Also schwul! Ausgerechnet der positive Protagonist der zur Grundsteinlegung des Prager Nationaltheaters 1868 uraufgeführten Oper und nach einer Volkssage Insasse eines Befestigungsturms auf der Prager Burg? Das ist Konfliktstoff für die Inszenierung, die sich mit teils entlarvenden, teils mühsamen Ansätzen zur Ironie aus der Affäre zu ziehen versucht. Deshalb muss die Musik, für die „jedes Tschechen Herz schlägt“, im Fokus stehen. Bei diesem von Jiří Sulženko ohne besonderen Nachdruck gesungenen Vers wird es hell im Zuschauerraum. Später fällt warmes Licht auf das vergoldete Bühnenportal, wenn Dalibor seinem „liebsten Zdenko“ in den Tod folgen will. An einer delikaten Stelle kommt die Surtitle-Anlage mit tschechischem und englischem Text aus dem Takt.
Es geht nur um Musik
Da kann allenfalls Stilisierung retten: Am Ende trägt Milada flammendes Rot, als wolle sie mit Dalibor zum Opernball. Andererseits gönnt Zuzana Bambušek Krejzková Dalibor, dessen Wams in der Prager Aufführungsgeschichte sonst zwischen Landser-Braun und Förster-Grün liegt, mit fast gewagtem schwarzen Leder und Goldkragen. Who knews…? Langsam bewegt sich der Chor nach vorne und schwebt der König beim ersten Auftritt im Goldstuhl herab. Aber es gibt auch ruhige szenische Momente wie in der Duett-Szene von Jitka und Jenek. Alžběta Poláčková und Jaroslav Březina haben nur kleinere Rollen, aber die gleiche vokale Ausdrucksgewalt wie die Sänger der Hauptpartien. Hier droht nicht jede Sekunde staatliche und sexuelle Gewalt wie in Augsburg, hier wedelt man nicht mit allzeit hungrigen Kameras wie in Frankfurt. Vage Assoziationen drängen sich auf, wenn die von Eisen umschälten Ritter vor Dalibors vergitterter Zelle posieren und am Ende dieser sich in das Schwert des auch stimmlich attraktiven Budivoi (Jiří Brückler) stürzt.
Doch ausgerechnet die immer wieder beschworene Musik scheint an diesem Abend den verschleiernden Manövern der Szene zu höhnen. Am Portal rechts und links sitzen zwei wie fahrende Musikanten kostümierten Harfenistinnen. Zum großen Violinsolo mit „Zdenko’s Theme“ steht Konzertmeister Ondřej Hás im Lichtkegel auf dunkler Bühne wie ein böhmischer Paganini. Die Inszenierung vermeidet mit auffälliger Deutlichkeit, was nicht gesagt werden darf und doch betörend gesungen wird.
Am Ende Bravi und Buhs
Orchester und Chor haben wie die beiden Sänger der Hauptpartien einen großartigen Abend. Musikchef Jaroslav Kyzlink lässt nämlich keinen einzigen veräußerlichten oder flachen Takt zu. Smetanas schöne Instrumentation kommt in einer Feinabstimmung, durch die das Blech und die Hölzer immer im dynamischen Dialog fließen – mit Edelschimmer, aber auch dunklen und dabei nie düsteren Herbstfarben. Es gibt nur ganz wenige Stellen des orchestralen Auftrumpfens: Musikalisch zieht der Abend also in der Nutzung der Verführungsmaschinerien des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts tatsächlich alle Register. Hier hört man, wie sich Smetana von den Vorbildern frei gemacht hat statt die Bezüge zu „Lohengrin“ und „Fidelio“ auszustellen.
Michal Lehotský singt die Titelpartie ohne Striche durch, betont erst liedhafte Natürlichkeit und hält sich mit stärkerer Emphase sowohl in den an Zdenko und Milada gerichteten emotionalen Phasen etwas zurück. Eine schöne Gesamtleistung, für die vernebelnde Sicht auf die Rolle kann er nichts. In ihrer Position als von der Rächerin zu Liebenden werdenden Milada fällt es Dana Burešová weitaus leichter, in Smetanas großen Kantilenen und Ausbrüchen aufzugehen. Ein Beifallshagel ergießt sich nach ihrem mit strahlenden Höhen durchsetzten Arie im zweiten Akt.
Am Ende Bravi und andere Buhs für die Szene, deren Ursache nicht ganz greifbar wird. Diese Inszenierung mogelt sich zwischen nationalistischen und psychologischen Fallstricken durch. Einfach hat es sich das Produktionsteam nicht gemacht. Aber bei diesen Vermeidungsstrategien hat man doch den Eindruck, Essenzielles verpasst zu haben. Auch wenn dieser „Dalibor“ durch das Orchester, den von Pavel Vaněk exzellent geführten Chor und die Sänger der Hauptpartien beglückend hohes Format hatte.
Nationaltheater Prag
Smetana: Dalibor
Jaroslav Kyzlink (Leitung), Jiří Nekvasil (Regie), Daniel Dvořák (Bühne), Zuzana Bambušek Krejzková (Kostüme), Pavel Vaněk (Chor), Alena Pešková (Choreografische Mitarbeit), Michal Lehotský (Dalibor), Dana Burešová (Milada), Alžběta Poláčková (Jitka), Adam Plachetka (Vladislav), Jiří Brückler (Budivoj), Jiří Sulženko (Beneš), Jaroslav Březina (Vítek), Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Chor des Nationaltheaters Prag, Orchester des Nationaltheaters Prag