Ausnahmsweise sei zu Beginn dieser Kritik eine ketzerische Frage erlaubt. Denn nachdem all die sommerlichen Festspiele die Oper mal wieder mit viel Aufwand, tollen Ideen und echter Liebe zum stimmungssteigernden Detail auf Seebühnen und Burgruinen gehievt, in Scheunen, Steinbrüchen und nun sogar gräflichen Gärten zum Klingen gebracht haben, legen wir ob all der ungewohnten Schauwerte den Kopf nachsinnend zur Seite: Ist die Pause nicht doch der schönste Teil des Abends? Ist es nicht einfach unvergleichlich, wenn wir gemeinsam mit den anderen Melomanen lustwandeln dürfen durch den Florentiner Garten des Palazzo Corsini del Prato, der des nachts während der auf eine Stunde ausgedehnten Pause nach dem zweiten Akt von „Le nozze di Figaro“ dank sensibler Beleuchtung seinen ganzen mediterranen Zauber entfaltet? Fühlen wir uns da nicht insgeheim zurückversetzt in die legendären Zeiten der Renaissance, als just hier in Florenz eine Gruppe von verrückten Künstlern, Intellektuellen und Geldgebern die griechische Tragödie aus dem Geiste der Musik wiederbeleben wollte und damit versehentlich die unerhörte, allzu oft totgesagte, aber bis heute quicklebendige neue Gattung des Musiktheaters erfand?
Im Garten der Corsini: Wer ist hier Darsteller und wer ist Zuschauer?
Machen diese herrlichen, so gar nicht überlangen Pausen die sonst so oft intellektuell überfrachtete Oper nicht wieder zu jenem Fest, das sie in der längsten Zeit ihrer Geschichte ja primär war? Die Erfinder und Macher des in diesen späten August-Tagen zum dritten Mal stattfindenden New Generation Festivals haben sehr genau verstanden, wie man ein solches Fest feiert, wie man Begegnungen initiiert, wie man das Meeting und Mating vor und nach der Vorstellung sowie in der in jeder Hinsicht zentralen Pause inszeniert und zelebriert. Da haben wir uns beim stets sehr späten Zubettgehen nach all den guten Gesprächen, all den sommersüffigen Gläsern Prosecco und Vino und all den kulinarischen Köstlichkeiten gewundert, dass es durchaus keine klare, Grenzen ziehende Antwort geben kann: Ist die exzellente Opernaufführung der entscheidenden Anlass fürs muntere gesellschaftliche Miteinander? Oder ist die rauschende Party und das erlesene internationale Publikum womöglich selbst der Anlass, Mozarts kluge Komödie über diesen einen tollen Tag mit den besten jungen Sängerinnen und Sänger der Gegenwart im Lichte des Hier und Jetzt extra frisch auf die Bühne zu bringen? Muss man denn überhaupt entscheiden, wer oder was hier Mittel und Zweck ist? Muss man strikt trennen, wer hier Darsteller und wer Zuschauer ist? Oder spielen wir nicht alle unsere Rollen, nach mehr oder weniger gut erlernten Regeln und einstudierten Abläufen? Die einen in den gewitzten Kostümen von Charlotte Werkmeister, die anderen in Smoking und Abendkleid?
So viel präzise ausgearbeiteter Spielwitz ist im Mutterland des Musiktheaters selten zu erleben
Wie dereinst im feudal sinnenfreudigen Opernzeitalter des Barock verschmilzen Bühne und Leben. Teatrum mundi, Welttheater nannte man das, Kunst und Welt spiegeln sich. Was man der Pause als unausgesprochenes Ritual zu spüren scheint, wird in der klug witzigen Inszenierung von Victoria Stevens auf die Spitze getrieben. Die am Nationaltheater Mannheim engagierte Regisseurin verlegt „Le nozze di Figaro“ für das New Generation Festival auf den Filmset – mithin wieder so eine Welt, in der jene seltsame Einheit aus Leben und Kunst herrscht. Und in der nicht zuletzt männliche Macht das (sexuelle) Sagen hat. Des Conte Almaviva Recht der ersten Nacht, mit der er sich den Missbrauch Susannas, der Zukünftigen seines Assistenten Figaro, genehmigt, gleicht hier dem Recht des einflussreichen Produzenten, der sich übergriffig zu nehmen weiß, wen er will. Der „Figaro“ verlegt ins #MeToo-Zeitalter – so funktioniert Mozarts Meisterwerk perfekt. Dazu muss die junge Regisseurin gar nicht viel umbiegen. Den Figuren tut die Übertragung verblüffend gut. Sogar den Nebenrollen: Eine köstliche Pointe ist es, dass Marcellina und Bartolo, bevor sie am Ende ihrer Elternschaft Figaros entdecken, als gewesene, in die Jahre gekommen Stars gezeichnet sind. Beth Margaret Taylor und Chuma Sijeqa spielen das Paar mit dem nie überzogenen Mut zur Charge. So viel präzise ausgearbeiteter Spielwitz ist im Mutterland des Musiktheaters selten zu erleben.
Einfach alle Farben der Verführung: Anna El-Kashem überstrahlt das herrliche junge Sängerensemble
Überhaupt wird im New Generation Festival, das den besten Sängernachwuchs der internationalen Opernstudios nach Florenz lockt, auf einem ausgeglichen sehr guten Niveau gesungen. Da entsteht nicht über die Summe sattsam bekannter Namen, sondern über die Feinauswahl herrlich harmonierender junger Stimmen ein Mozartensemble von Festspielrang. Dieses Ensemble wird dennoch heimlich angeführt von Anna El-Kashem, eine der schönsten Blüten des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper in München. Ihr superber Sahnesopran verfügt über alle Farben der Verführung, die sie sensibel aus dem italienischen Text des Lorenzo da Ponte ableitet. Dieses Debüt öffnet ihr vollends den Weg nach ganz oben. Auch Bassbariton Daniel Miroslaw ist als Figaro a Class of his own. Seine Stimme klingt warm und wortklar, ideal ausgeglichen in den Registern, er kann mit dieser Leistung schon jetzt auf jeder großen Bühne bestehen. Faik Mansuroğlu braucht als baritonviriler wie eloquenter Conte Almaviva nur noch den letzten Schliff, seine italienisch geführte Stimme ist fraglos eine Entdeckung. Im Greta Garbo-Divenlook darf auch Nela Šarić als Gräfin Almaviva als solche gelten. Das aristokratisch edle Timbre ihres jugendlich-dramatischen Soprans ist berührend, die Sängerin erstirbt dabei nicht im Schönklang, sondern wagt auch mal was. Sara Rocchi ist ein Cherubino mit gebirgswasserklarem, schlicht und ergreifend geführtem Mezzo. Die fulminanten Gesangsleistungen werden getragen und befördert durch Jonathan Santagada. Der Assistent von Sir Antonio Pappano am Opernhaus von Covent Garden sorgt am Pult des seinerseits jung besetzten Orchestra Senzaspine für den idealen Mozart-Puls, in dem sich die klare Artikulation der Klangrede wunderbar in den emotional empfundenen Phrasierungssog einbettet.
Neues, von Theaterinstitutionen unabhängiges, durch Erkenntnisse der Sportpsychologie geprägtes Mascarade Opera Studio
Die Nachwuchsförderung des Festivals geht indes weiter. Es baut derzeit ein eigenes, auf neun Monate gemeinsamer Arbeit angelegtes Opernstudio auf, in dessen Konzept erstmals gezielt Erkenntnisse der Sportpsychologie eingehen. Ein Lieder- und Arienabend des diesjährigen Sänger-Sommerkurses demonstrierte eindrucksvoll des Erfolg des neuen Ansatzes des pädagogischen Leiters Ralph Strehle. Da tut sich was in der Geburtsstadt der Gattung Oper.
New Generation Festival Florenz
Mozart: Le nozze di Figaro
Jonathan Santagada (Leitung), Victoria Stevens (Regie), Charlotte Werkmeister (Kostüme), Giulia Bellé (Bühne), Orlando Bolognesi (Licht), Daniel Miroslaw, Anna El-Kashem, Faik Mansuroğlu, Nela Šarić, Sara Rocchi, Beth Margaret Taylor, Domenico Pellicola, Alexandra Lowe, Chuma Sijeqa, James Corrigan, Robert Forrest, Orchestra Senzaspine