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Opern-Kritik: Oper Bonn – The Gospel according to the other Mary

Passioniert

(Bonn, 26.3.2017) Peter Sellars gelingt eine einzigartige Regiearbeit für John Adams‘ szenisches Oratorium

vonAndreas Falentin,

Zweifellos gehört Peter Sellars zu den wesentlichen Opernregisseuren der letzten 30 Jahre. Seine Inszenierungen von Mozarts Da-Ponte-Opern, die er im New York der Gegenwart ansiedelte, schrieben in den 80er Jahren genauso Operngeschichte wie später seine Uraufführungen von Stücken von John Adams, Tan Dun und Kaija Saariaho. In Europa hat er schwerpunktmäßig in Glyndebourne, London, Amsterdam und Salzburg inszeniert, so dass eine Premiere in Deutschland durchaus als Ereignis bezeichnet werden darf, auch wenn es sich in diesem Fall „nur“ um eine Neueinstudierung der Londoner Uraufführungsproduktion handelt.

Maria Magdalenas Perspektive auf das Evangelium

In mehreren seiner letzten Arbeiten, etwa in der mit Teodor Currentzis für Madrid erarbeiteten „Indian Queen“, geht es Sellars dezidiert um den weiblichen Blick, um die Perspektive, um die gesellschaftliche Situation der Frau. „The Gospel according to the other Mary“ ist eine Art alternatives Evangelium, in dessen Mittelpunkt Maria Magdalena steht. Sellars hat für das Libretto Passagen aus dem Neuen Testament und dem Buch Jesaja mit Literatur des 20. Jahrhunderts kombiniert, von der 1980 verstorbenen Sozialaktivistin Dorothy Day über die erfolgreiche Romanautorin Louise Erdrich bis hin zum durch seine persönliche Aufarbeitung des Holocaust bekannten italienischen Schriftsteller Primo Levi. So ist ein Theatertext entstanden, der einerseits wesentliche Handlungsmomente der Evangelien – Die Aufweckung des Lazarus, Gethsemane, Kreuzigung, Auferstehung – aus Sicht Maria Magdalenas schildert und andererseits immer wieder Brücken ins 20. Jahrhundert und in die Gegenwart schlägt.

Szenenbild aus "The Gospel according to the other Mary"
The Gospel according to the other Mary/Theater Bonn © Thilo-Beu

Das Ensemble wirkt erfüllt

John Adams hat für dieses „Opern-Oratorium“ eine sehr vielfältige Musik geschrieben, die neben Minimal Patterns harsche, fast brutale Glissandi genauso kennt wie clusterhafte Ballungen, fast spätromantisch anmutende Melodiebögen und deutlich an Bach erinnernde Ostinati. Natalie Murray Beale hat das mit dem Beethoven Orchester blendend einstudiert, erreicht eine differenzierte, nicht selten druckvolle, überaus plastische Wiedergabe. Auch der Bonner Chor und alle Solisten zeichnen sich durch große Musikalität und hohes Engagement aus, wirken nachgerade erfüllt. Was vor allem an der Inszenierung von Peter Sellars liegt. Natürlich haben sich in einer derart langen Karriere Manierismen eingeschlichen, etwa die großen, stilisierten Hand-Gesten oder die Ethno-Kostüme für den Chor, die dem Gegenstand nicht immer angemessen scheinen. Dennoch darf diese Regiearbeit, vor allem durch ihre Verweigerung von jeder Art Spektakel, als einzigartig bezeichnet werden.

Gemeinsames Erleben der unglaublichen biblischen Geschichten

Es gibt ein paar Holzkisten und zwei metallene Absperrgitter an den Seiten, sonst nichts. Mit Licht und Projektionen wird eine Wüstenlandschaft angedeutet, ergänzt durch Details eines Portraits des Malers Rogier van der Weyden aus dem 15. Jahrhundert. Drei Countertenöre, die sowohl die Rolle des Evangelisten als auch der Jesusworte in einer Passion übernehmen, tragen Camouflage-Jacken, die Sänger, die die Geschwister Maria, Martha und Lazarus darstellen, tragen Alltagskleidung. Dazu kommen vier schwarz gekleidete Tänzer. Es werden keine klassischen Rollen gespielt, die vielen aus den Texten herausspringenden großen Gefühle werden nicht in theatralische Aktionen überführt. Dafür werden die zehn Solisten immer wieder in Paaren und Gruppen zusammengeführt und angeordnet. Oft sehen sie sich an, fassen sich an, umarmen sich, durchleben die unglaublichen biblischen Geschichten gemeinsam.

Szenenbild aus "The Gospel according to the other Mary"
The Gospel according to the other Mary/Theater Bonn © Thilo-Beu

Gewaltiges Wagnis mit Kitschgefahr

Sellars traut sich, das Sterben Christi durch zwei liegende, zitternde Tänzer und die Reaktion der anderen darauf darstellen zu lassen. Als Schlussbild lässt er diese Tänzer mit ausgebreiteten Armen langsam den Raum verlassen, während alle anderen mit ihrer Ergriffenheit, mit sich selbst beschäftigt sind. Dieses Stück ist, zumal in dieser Inszenierung, ein gewaltiges Wagnis, oft nicht weit vom Umkippen in esoterischen Kitsch entfernt, im angstlosen Umgang mit Pathos, im Verzicht auf jede Art von Dekoration monströs altmodisch und scheinbar naiv – und wird vom Bonner Publikum lange, ausgiebig und intensiv gefeiert.

Oper Bonn
Adams: The Gospel according to the other Mary

Natalie Murray Beale (Leitung), Peter Sellars (Regie), George Tsypin (Bühne), Gabriel Berry (Kostüme), Marco Medved (Chor), Christin-Marie Hill (Mary Magdalene), Ceri Williams (Martha), Ronald Samm (Lazarus), William Towers, Benjamin Williamson, Russell Harcourt (Countertenöre), Iamnia Montalvo Hernandez, Carmen Canas, Keisuke Mihara, Erik Constantin (Tänzer), Chor des Theaters Bonn, Beethoven Orchester Bonn

Termine: 26.3. (Premiere), 1., 21. & 23.4., 11. & 14.5.

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