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Opern-Kritik: Oper Bonn – Oberst Chabert

Totgeglaubte leben länger

(Bonn, 17.6.2018) Grandiose Pionierarbeit für den zu unrecht vergessenen Operndramatiker Hermann Wolfgang von Waltershausen

vonSabine Weber,

Eigentlich hat die Pionierarbeit schon 2010 an der Deutschen Oper Berlin begonnen. Der Dramaturg damals hieß Andreas K. W. Meyer. Er ist inzwischen Operndirektor in Bonn. Im Orchestergraben stand Jacques Lacombe, inzwischen Chefdirigent beim Bonner Beethoven Orchester. Was in Berlin nur zu zwei halbszenischen Aufführungen gereicht hat, weil ein Sponsor abgesprungen ist, konnte jetzt an der Oper Bonn zur Vollendung gelangen: Die Wiederentdeckung einer der bühnenwirksamsten und dramatischsten Musiktragödien des 20. Jahrhunderts, die musikalisch alle Vorzüge einer Wagner– oder Strauss-Oper aufbietet und dennoch nur 90 Minuten dauert!

Szenenbild aus "Oberst Chabert"
Oberst Chabert/Oper Bonn © Thilo Beu

Hermann Wolfgang von Waltershausen selbst verwandelt die Novelle Balzacs beherzt in ein bühnenreifes Libretto

Die drei Akte schreien auch nach szenischer Umsetzung. Freilich sollte kein Balzac erwartet werden. Denn in die für eine Dramatisierung völlig ungeeignet erscheinende Novelle Balzacs von 1832 hat Hermann Wolfgang von Waltershausen als sein eigener Librettist beherzt und mit Bühneninstinkt eingegriffen. Rosine, bei Balzac eine kalt und berechnend ihr widerliches Spiel treibende Frau, wandelt von Waltershausen in eine, die aus Liebe zu Mann und Kindern handelt. Ihr Gatte Ferraud spielt bei Balzac gar keine Rolle.

Waltershausen stilisiert ihn zum verliebten Ehemann in einer neu entwickelten Dreiecksgeschichte, die in atemberaubendem Tempo eine Konfrontation und Enthüllung nach der anderen hervorbringt. Angeheizt durch den Advokaten Derville, der eine Balzac‘sche Figur durch und durch geblieben ist und im Novellen-Gesamtoeuvre Balzacs auch mehrmals auftaucht. Balzac hat sich als ehemaliger Jurastudent und zeitweiliger Angestellter eines Pariser Anwalts mit den Kniffen in Rechtsgeschäften kundig machen können. Derville macht sich also unbestechlich und „aus Lust an seinem Handwerk“, wie es im Libretto auch heißt, an die Wahrheitsfindung.

Wie der geisteskranke Oberst aus dem Massengrab aufersteht

Rosine versucht ihren ersten Ehemann nämlich zu verleugnen. Sie ist glücklich mit Ferraud verheiratet, einem Pair von Frankreich. Ihr erster nur aus einer Notlage heraus gewählter Gatte Chabert ist als Oberst der Grande Armée Napoleons bei der Schlacht in Eylau bei Königsberg 1807 ja auch gefallen. Er konnte sich indes schwerverletzt aus dem Massengrab befreien. Nach langer Krankheit und als Geisteskranker in einem Irrenhaus festgehalten, will er jetzt seinen Namen, Platz und vor allem seine Frau zurück und fällt in eine Idylle ein.

Szenenbild aus "Oberst Chabert"
Oberst Chabert/Oper Bonn © Thilo Beu

Die Schlacht in Eylau bei Königsberg 1807 und der Bürgerkrieg in Syrien 2018 treffen sich im Film

In der Bonner Inszenierung ist Chabert eine verwahrloste Gestalt an Krücken, die immer wieder den Flachmann zieht. Von Anfang bis Ende steht und agiert er in der Ruinenlandschaft eines zerbombten Betonbunkers, aus dem Armierungsstäbe wie Gräten herausstehen (Bühnenbild David Hohmann). Der Bühnenkrater öffnet sich zum Publikum hin. Das sitzt wie mitgefangen in dessen Dunkel. Im Hintergrund liefern Projizierungen die Bühnenbilder (Video: Janica Aufmwasser, Niclas Siebert, David Sridharan).

Erst zu sehen ein Akten-Archiv für Dervilles Kanzlei. Oder ein schneckenförmiges Treppenhaus für die Szenen in Chaberts ehemaligem Palast, wo jetzt Rosine und Ferraud leben. Alles spielt sich also in, hinter und durch die Kriegsruine ab. Und egal, um welchen Krieg es sich handelt, er macht langfristig alle zu Verlierern. Gezeigt werden auch zerbombte Häuserfronten aus dem aktuellen syrischen Bürgerkrieg.

Die Sänger bewegen sich bewunderungswürdig durch die Knöchelbruch-verdächtige Trümmerlandschaft

Szenenbild aus "Oberst Chabert"
Oberst Chabert/Oper Bonn © Thilo Beu

Die Regie von Roland Schwab ist hautnah an den Personen dran, die sich bewunderungswürdig durch die Knöchelbruch-verdächtige Trümmerlandschaft auf der Bühne bewegen. Mark Morause als Chabert ist ein verzweifelt auf Liebe setzender und scheiternder Kriegsversehrter. Yannick-Muriel Noah lässt als Rosine Weiblichkeit in ihrer Stimme erblühen und verteidigt vehement das Recht auf ihre Liebe. Beide sind Mitglieder des Bonner Ensembles.

Peter Tantsits, ein Spezialist für Neue Musik, der in Pascale Dusapins „Perela, uomo di fumo“ in Mainz oder in der Basler Erstaufführung von Stockhausens „Donnerstag aus Licht“ Hauptrollen übernommen hat, bewältigt hier die überaus heikel hohe und vielleicht die schwerste Partie des Abends, die von Ferraud. Von Waltershausen hat in einem Brief zugegeben, dass diese Partie, wie auch die der Rosine, eigentlich zu hoch läge. Daran wollte von Waltershausen aber nichts ändern. Wobei betont werden darf, dass er dennoch fast durchgängig sprachverständlich durchkomponiert hat.

Er greift mehrmals auf Wagners Erzähltechnik zurück. Erlebnisse und damit Motive werden monologisch geliefert, was nach und nach die Katastrophe herbei führt. Von kammermusikalisch bis opulent zieht von Waltershausen alle nur denkbaren romantischen Klangregister. Solovioline, Cellokantilenen, Posaunenchöre, die zwei Oboe d’amore, die Rosines Schilderung am Beginn des dritten Aktes einleiten, erinnern natürlich an Wagners „Tristan“. Von Waltershausen arbeitet auch mit Leitmotiven, etwas zu oft nur zitiert er die Marseillaise, und ist auf Augenhöhe mit der Klangmächtigkeit eines Richard Strauss. Von Plagiat kann aber keine Rede sein. Alles hat seinen völlig eigenen Duktus. Selbst Mendelssohn‘sche Leichtigkeit ist hier und da zu spüren.

Ein 90-minütiger Psychokrimi: keine Länge, nirgends

Von Waltershausen ist als Schüler Ludwig Thuilles in München einem konservativen Zeitgeist aus voller Überzeugung treu geblieben. Die Atonalität hat der 1954 an einem Schlaganfall verstorbene Komponist, übrigens seit Kindheit einarmig und einbeinig, längst für beendet erklärt. Ebenso den Jazz als in der klassischen Musik unnütz. An der Avantgarde ist er sicherlich nicht interessiert gewesen, aber wie er aus genial konzentrierten Momenten fast einen Psychokrimi werden lässt, das verrät absolute Meisterschaft. Wieso haben wir nicht schon vorher etwas von „Oberst Chabert“ gehört? Nichts ist überflüssig. Keine Länge, nirgends.

Szenenbild aus "Oberst Chabert"
Oberst Chabert/Oper Bonn © Thilo Beu

In Bonn überragt Chabert als überlebensgroßer Schatten im Finale die Bonner Bühne. Ein großer Erfolg, der da in Bonn gefeiert worden ist. Zur Premiere waren auch einige Intendanten eingeladen, um die Sache Chaberts vielleicht auch an anderen Opernhäusern groß zu machen. Und vielleicht zu weiteren Entdeckungen der Opern von Hermann Wolfgang von Waltershausen anzuregen. Fünf hat er insgesamt hinterlassen.

Oper Bonn
von Waltershausen: Oberst Chabert

Jacques Lacombe (Leitung), Roland Schwab (Regie), David Hohmann (Bühne), Janica Aufmwasser, Niclas Siebert, David Sridharan (Video), Renée Listerdal (Kostüme), Mark Morouse (Graf Chabert), Peter Tantsits (Graf Ferraud), Yannick-Muriel Noah (Rosine), Giorgos Kanaris (Derville), Martin Tzonev (Godeschal), David Fischer (Boucard), Beethoven Orchester Bonn

Weitere Termine: 21. & 27.6., 5. & 13.7.2018

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