Richard Wagners „Ring“ funkelt immer irgendwo. An der Deutschen Oper hat Stefan Herheim seine „Ring“-Koffer in Berlin abgestellt. An der Lindenoper steht Dmitri Tscherniakov in den Startlöchern. In Leipzig im Rahmen des „Wagner 22“-Projektes, bei dem alle Wagneropern zum Großevent zusammengespannt werden, kommt natürlich auch die komplette Tetralogie zur Aufführung. In Stuttgart wurde gerade die dort vor zwanzig Jahren quasi erfundene Methode, die Regieaufträge für jeden Teil an unterschiedliche Teams zu verteilen, weiterentwickelt. Im Falle der „Walküre“ wurden diesmal sogar für jeden Akt die Regiepferde gewechselt. Dafür wird Jossi Wielers und Sergio Morabitos „Siegfried“ aus dem legendären ersten Stuttgarter Vierer-Ring wiederbelebt.
Dortmunds „Wagner-Kosmos“ als kluge Kontextualisierung
Die aufführungshistorischen Reminiszenzen gehen aber noch weiter. Auch der „Götterdämmerung“, die damals Peter Konwitschny beigesteuert hat, steht eine Rückkehr auf die Bühne bevor. Allerdings nicht in Stuttgart. Der mittlerweile zum Altmeister der aktiven Regisseure avancierte Konwitschny (er ist Jahrgang 1945) hat nämlich jetzt an der Oper Dortmund seinen Ring mit der „Walküre“ begonnen. Da Konwitschny zwar schon oft eigene Inszenierungen an anderen Häusern neu einstudiert hat, aber stets bei der einmal gefundenen ästhetischen Lösung für das jeweilige Werk bleibt (allein schon, weil man am Beispiel von ebenso berühmten Kollegen studieren kann, dass man sich mit Wiederholungen von Stücken meistens nicht verbessert), wird die Stuttgarter „Götterdämmerung“ (natürlich neu erarbeitet) 2025 seinen „Ring“ in Dortmund komplettieren. So jedenfalls hat es Intendant Heribert Germeshausen, eingebettet in sein ambitioniertes „Wagner-Kosmos“-Projekt, geplant. Im Mai 2023 folgen „Siegfried“, 2024 „Das Rheingold“ und den ganze Zyklus dann 2025.
Das Prinzip der historisch inhaltlichen Umrahmung – oder Einkreisung – Wagners brachte in diesem Jahr die schon 2021 geplante „Frédégonde“ von Guiraud und Saint-Saëns und Spontinis „Fernand Cortez“ gleichsam als durchdachte Kontextualisierung auf den Spielplan. Im nächsten Jahr geht es mit Halévys „La Juive“ (2023) und 2024 dann mit der Ausgrabung von „La Montagne noire“ von Holmès weiter.
Peter Konwitschnys besondere Zuneigung zu den Figuren, sein genaues Hineinhören in die Musik und sein untrüglicher Sinn für den szenischen Witz
Peter Konwitschny hatte in Dortmund vor zwei Jahren schon „Die Stumme von Portici“ einstudiert, die dann am 13. März 2020 in einer Art Geisterpremiere nur noch vor ein paar Journalisten über die Bühne gehen konnte, bevor der erste Lockdown den Theatern und Opernhäusern jene neue Flexibilität aufzwang, die seither ihre Arbeit bestimmt und immer noch über jeder Planung schwebt. Im Falle der neuen „Walküre“ ist alles gut gegangen. Sehr gut sogar. Sie wurde zu einem Triumph der Musik, des Theaters und eines Regisseurs in Hochform! Ein Triumph von Wagner sowieso. Dieser „Ring“-Teil hat schon immer einen Bonus bei den Wagnerianern. Schon, weil es hier ziemlich menschlich zugeht. Bei den beiden (zumindest mütterlicherseits) Menschenkindern Siegmund und Sieglinde, aber auch beim Götterehepaar Wotan und Fricka. Und in Wotans Verhältnis zu seiner unehelichen Lieblingstochter Brünnhilde. Hier überschreitet die Liebe alle Grenzen, hier schlagen aber auch die Verhältnisse zurück. Was einer wie Peter Konwitschny mit besonderer Zuneigung zu den Figuren, genauem Hineinhören in die Musik und mit einem untrüglichen Sinn für den szenischen Witz eben nach wie vor besonders eindrucksvoll hinbekommt. Es darf und soll also auch gelacht werden.
Etwa, wenn Siegmund durchs eingeschlagene Fenster in Hundings Hütte eindringt, der dazu kommende Hausherr ihm aber mit der Geste des misstrauischen Ehemanns seine auf wundersame Weise vor der Tür abgestellten Schuhe mit großer Geste präsentiert und eine In-flagranti-Situation andeutet. Wäre es fast auch geworden, denn die Lippen der beiden Zwillinge waren sich da schon ziemlich nahegekommen.
Es ist Schluss mit der Welt, wie sie ist
Ausstatter Frank Philipp Schlößmann hatte für das Vorspiel eine einsame Straßenlaterne auf die leere Bühne gestellt, in deren Lichtschein die Hunding-Gang sich den vorbeieilenden Siegmund vornimmt. Davor schwebte das Blätterdach (vermutlich einer Esche) vor dem geschlossenen Vorhang und krachte zu Boden. Man wird sich das merken müssen bis zum „Rheingold“. Dass der Mensch in die Natur eingegriffen hat, ist aber auch so klar. In der abgeranzten Hundingwohnküche dienen Stücke des Eschestammes als notdürftige Einrichtungsergänzung. In der nobleren Behausung von Fricka und Wotan im zweiten Aufzug sind die dann schon verarbeitet und in dem Luxusloft auf dem Wallhallfelsen nur noch Erinnerung im Nobel-Interieur. Eigentlich bleiben wir mit Schlößmanns drei Raumecken immer besonders dicht an Wotans Bedrängnis. Der ist hier ja innerlich besonders zerrissen. Das Ende der (seiner) Welt vor Augen, der mögliche Erbe für einen großen Neustart ist schon aus dem Gröbsten raus, und dann wird er selbst zum Knecht seiner Verträge! Er muss Fricka nachgeben und Siegmund opfern, denn die hat recht — von ihrem Standpunkt aus und von dem der Verhältnisse. Wenn Wotan den Tabubruch des Inzestes (der für seine noch weitergehenden Ambitionen steht) durchgehen lässt, dann ist Schluss mit der Welt, wie sie ist. Fricka weiß noch nicht, dass auch mit ihrem Beharren das Ende unausweichlich ist.
Wotan als ein Mustervater im Erziehungsurlaub
Wotans revoluzzern gegen sich selbst ist ohne Frage die sympathischere Variante. Wie ausgelassen er mit seiner Tochter Brünnhilde herumtollt, mit Schwert und Speer aus Papier, wie er ihr Pferd spielt, wie die Federn aus den Kissen fliegen – ein Mustervater im Erziehungsurlaub! Als Fricka, begleitet von zwei sonnenbebrillten Leibwächtern, auftaucht, um Rache für den „betrogenen“ Hunding zu fordern, beginnt ihr Auftritt mit einem veritablen Lacher: einer der Knaller, mit denen Vater und Tochter vorher gespielt haben, geht hoch und die Lady im passenden Ledermantel zum strengen Auftritt zuckt für einen Moment erschrocken zusammen. Wotans Niederlage im Richtungsstreit der beiden in Sachen Welt, im Gewand eines Ehekrachs, lässt sie sich vorsichtshalber schriftlich bestätigen.
Konwitschny zündet ein großes Feuerwerk von witzigen und überraschenden Einfällen
Bei Konwitschny gehen aber nicht nur kleine Konfettiknaller hoch. Er veranstaltet ein großes Feuerwerk von witzigen und überraschenden Einfällen: Wenn der nur für uns sichtbare Wotan eine Stehleiter aufstellt, damit Siegmund an das in der Höhe schwebende Schwert gelangt, das dann nicht von ihm, sondern diesmal von Sieglinde ergriffen wird. Oder, wenn der Brutalo Hunding Siegmund von hinten erschießt und Wotans wütendes „Geh!“ am Ende mal nicht zu dessen Tod, sondern „nur“ zu seinem Abgang führt. Oder, wenn die Walküren in ihren blauen Schuluniformen jede mit ihrem eigenen Steckenperd aus der Versenkung auftauchen. Auch für den Feuerzauber am Ende hat Konwitschny eine Überraschung parat. Kein Flammenzüngeln, sondern die musikalische Imagination durch sechs Harfen auf der Bühne, die eine über den Orchestergraben geschobene Brünnhilde flankieren bzw. umlodern.
Famoses Protagonistenensemble
All das funktioniert fabelhaft, weil das Protagonistenensemble die Suche nach dem menschlichen Extrakt im Stück, das Konwitschny offenbar im Sinn hatte, innerlich mitgegangen ist und auch vokal und darstellerisch umzusetzen vermochte. Faszinierend, mit welcher unangestrengten Leichtigkeit Daniel Frank und Astrid Kessler Siegmund und Sieglinde porträtierten. Vom aufflackernden Begehren über die geradezu kindliche Begeisterung bis zur tiefsten Verzweiflung – das ist grandios gesungen und gestaltet. Stéphanie Müther (deren mustergültige Chemnitzer Isolde noch frisch in Erinnerung ist) ist eine prachtvolle Brünnhilde, die es nicht nötig hat, mit einem vokalen Speer herumzufuchteln. Wunderbar auch ihr Zusammenspiel mit dem eher edlen als auftrumpfenden Noel Bouley als Wotan. Auch Kai Rüütel als herrische Fricka und Denis Velev als mafioser Hunding machen ihre Sache gut. Dass in der Walküren-Schar kleinere und größere Stimmen beisammen sind – wen stört das schon. Gabriel Feltz und das Dortmunder Orchesters beweisen mit dieser „Walküre“ Wagnerkompetenz, die neugierig auf die Fortsetzungen macht. Feltz hat was übrig fürs Verweilen und Vertiefen, lässt sich nicht hetzen, kostet aus.
Genauso wie diese „Walküre“ geht ein „Gesamtkunstwerk Oper“ für hier und heute! Das Publikum in Dortmund quittierte das mit Ovationen!
Oper Dortmund
Wagner: Die Walküre
Gabriel Feltz (Leitung), Peter Konwitschny (Regie), Frank Philipp Schlößmann (Bühne & Kostüme), Florian Franzen (Licht), Bettina Bartz, Laura Knoll & Heribert Germeshausen (Dramaturgie), Stéphanie Müther, Noel Bouley, Astrid Kessler, Daniel Frank, Kai Rüütel, Denis Velev, Tanja Christine Kuhn, Vera Fischer, Natascha Valentin, Maria Hiefinger, Sooyeon Lee, Davia Bouley, Edvina Valjevcic, Dortmunder Philharmoniker