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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Die ersten Menschen

Postapokalyptisches Mysterienspiel

(Frankfurt am Main, 2.7.2023) Tolles Frankfurter Finale von GMD Sebastian Weigle: Die Oper des 1915 mit nur 28 Jahren im Ersten Weltkrieg gefallenen Rudi Stephan ist eine prachtvolle Alternative zu „Salome“ oder „Parsifal“.

vonRoland H. Dippel,

Frankfurts Oberbürgermeister Mike Josef unterbrach die lärmenden Ovationen mit einer Laudatio und einem Blumenstrauß für den scheidenden Generalmusikdirektor Sebastian Weigle. Fünfzehn Spielzeiten hatte Weigle mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester im regelmäßig zum „Opernhaus des Jahres“ gekürten Theaterbau am Willy-Brandt-Platz exemplarische Leistungen geliefert und von Wagners Jugendopern bis Martinůs „Julietta“ auf CD festgehalten. Für ihren letzten gemeinsamen Opernstreich dachten sich Intendant Bernd Loebe und Weigle etwas ganz besonderes aus: Das 1920 am Frankfurter Opernhaus uraufgeführte Musikdrama „Die ersten Menschen“ des 1915 mit nur 28 Jahren im Ersten Weltkrieg gefallenen Rudi Stephan. Stephans Partitur ist bezwingend, die Handlung des Schauspiels von Otto Borngräber krude.

Hamburgs designierter Opernintendant Tobias Kratzer und die vier Solisten lassen sich bewundernswert auf die Nervenpartien ein. Sie machen die Oper nach Borngräbers 1912 in München uraufgeführtem und dann in ganz Bayern verbotenem „erotischem Mysterium“ zur Extremerfahrung, die niemanden kalt lässt. Zudem ist die Frankfurter Premiere die bisher vollständigste des in bisher nur zwei älteren Einspielungen vorliegenden und zuletzt in Amsterdam in einer Inszenierung von Calixto Bieito gespielten Werks. Karl Holl, ein Freund Stephans, hatte die Oper für Bühnenaufführungen gekürzt und damit vorsorgend um Skandal-Zündstoff erleichtert. Erst seit der Wiederentdeckung durch John Dew am Theater Bielefeld 1988 spielt man die Originalfassung.

Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt

Nach der Apokalypse ist vor dem Sündenfall

Rudi Stephan kannte „Salome“. Er setzte sein ähnlich durch Gottsuche und tödliche Erotik angetriebenes Opus weitaus subtiler in akustische Szene als Strauss den Dualismus zwischen Salomes sinnlichem Sehnen und Jochanaans tonalen Glaubensgewissheiten. In Borngräbers Ur-Familie ist nicht der Streit um das gottgefällige Opfer Anlass zum Brudermord, sondern die erotische Eifersucht Kains auf Abel bei der Balz um Mutter Eva.

„Die ersten Menschen“ leben in einer agrartechnisch kaum erschlossenen Urlandschaft. Bei Borngräber und Stephan heißen sie Adahm, Chawa, Kajin und Chabel. Gleich nach dem Vorspiel geht es voll zur Sache: Wohin mit sexuellen Energien, wenn die (Ur-)Ehe nicht mehr stimmt und für Adahms erwachsene Söhne keine Frauen in Sicht sind? Bei Borngräber reagieren die Figuren auf Seelen- und Leibesnöte ziemlich überspannt, aber nachvollziehbar. Weil es in Stephans und Borngräbers Adaption keine Versuchung durch die Schlange und keine Vertreibung aus dem Garten Eden gibt, wird der Brudermord vom zweiten Sündenfall der Genesis zum ersten im Musikdrama.

Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt

Die letzten Menschen

Das ganze Menschheitselend enthüllt sich bei Stephan laut, ekstatisch und impulsiv. Hinter dem Fenster des Wohnraums mit für das Ende des 20. Jahrhunderts typischer Küchenzeile und zerknautschter Couch ist bei Aufgehen des Vorhangs sommerliche Erntezeit. Das steht in meteorologischem Widerspruch zum Ehe-November und Chawas Frühlingsgesängen. Es verlangt ihr nach Sex und Zärtlichkeit, Adahm aber will nicht. Kajin hat immer wieder die Hand im Schritt und drängt nach Entladung.

Stutzig wird man an Rainer Sellmaiers realistischer Ausstattung allerdings erst, als Chabel im Schutzanzug die Metalltreppe heruntersteigt, die auseinanderfahrenden Bühnenwände den Blick auf ein prall gefülltes Lebensmitteldepot und ein Notstromaggregat freigeben. Das Kleinfamilien-Inferno ist also unterirdisch, die Erde öd und leer. Chabel tötet ein Schaf und erfindet dabei einen Gott, der Trost und Hoffnung in das streitlustige Bunkerleben bringt.

Trümmer des früheren schönen Lebens

Der zweite Teil spielt auf der Erdoberfläche nach deren radikaler Zerstörung. Letzte Trümmer des früheren schönen Lebens in der sonnigen Eigenheim-Oase, das Adahm damals mit Frau und blonden Kindern auf Super 8 festgehalten hat, sind auch noch da, vor allem das Autowrack mit Erotikmagazin im Handschuhfach. Die Requisiten erzählen viel: der orangefarbene Geigerzähler und auch der Metallkolben, mit dem Kajin seinem Bruder Chabel den Garaus macht. Nach der improvisierten Bestattung und Adahms Versöhnung mit Chawa steigen doch noch weitere Menschen aus ihren Bunkern und schauen sich sehnsüchtig an. Denn ein optimistisches Ende braucht Stephans finales Dur-Leuchten nach den durch heftigste Chromatik befeuerten Trieb- und Sinnkrisen.

Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt

Diese saloppe Darstellung der Handlung soll nicht täuschen. Kratzer nimmt die Figuren ernst und legt bloß, was schon lange vor Beginn des Ersten Weltkriegs an existenziellen Verunsicherungen in der Luft lag. Das Nachspüren in der textlich-musikalischen Physiognomie von Plot und Figuren legt erstaunliche Schichten frei. Der in der Bibel-Exegese immer sympathische Chabel entpuppt sich als Fast-Fundamentalist, indes das Solo-Saxophon ein weitaus milderes Gottesgnadenbild zeichnet. Chawa ist eine verhärmte Hausfrau mit geringem Bewegungsspielraum. Kajin wird zum Gewalttäter aus Trieb- und Aktionsstau. Nur Adahm findet sich fast gelassen ab. Mindestens drei sind durch Klaustrophobie und Katastrophen traumatisiert, sie gieren wie Verdurstende nach Genuss.

Kongenialer Bass-Fels in der instrumentalen Dauer-Brandung

Wer soll das singen? Die „normalste“ Partie hat noch der „alte Adahm“, dem durch den Tod seines Sohns wieder pulsierende Emotionen kommen. Andreas Bauer Kanabas ist der kongeniale Bass-Fels in der instrumentalen Dauer-Brandung. Etwas ungnädig für Sängerstimmen forderte Stephan von den anderen perfide Tonregionen: Chabel (dieser Part liegt Ian Koziara weitaus besser als vor vier Jahren der Fritz in „Der ferne Klang“) beginnt in nicht mehr tenorgemäßer Tiefe und schraubt sich mit fast ins Falsett gleitendem Spitzenton zum Wort „Gott“ hoch.

Für Kajin und Chawa gilt fast noch mehr, dass sinnlicher Dauerdruck und multiple Gipfelstürme gemeistert werden müssen. Ambur Braid beginnt ihre lange Parforce-Tour fast etwas spitz und gewinnt immer mehr an wärmender Rundung, Höhenstrahlen und Energie. Iain MacNeil wirft sich mit brachialer Inbrunst in die Partie des ersten Mörders bis zum Wahnmonolog, in dem sich Kajin selbst kastriert. Alles vorgegeben: Borngräbers Text schlägt mit deutlicher Symbolik und Hammerwirkung auf die Hörernerven ein.

Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Die ersten Menschen“ an der Oper Frankfurt

Religions-, Evolutions- und Schicksalsfragen

Zeitzeugen – inklusive der von Adorno viel zitierte Frankfurter Musikkritiker Paul Bekker – hielten Stephan für ein riesiges Talent. Seine rauschhafte Instrumentation steht näher bei Schreker und Debussy, deren Opern Stephan in Frankfurt und München hörte, als bei Wagner. In den Vokalpartien sowieso und auch vom Orchester verlangte Stephan eine genau klingende Dialektik zu Religions-, Evolutions- und Schicksalsfragen. Da haben Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester auch für den von Naxos vorbereiteten Aufführungsmitschnitt eine großartige Sternstunde.

Wer nicht nach Frankfurt für eine Vorstellung fahren kann, sollte sich spätestens bei deren Erscheinen davon überzeugen, dass „Die ersten Menschen“ eine prachtvolle wie zwiespältige Alternative zu „Salome“ oder „Parsifal“ sind. Extrovertiertes Grübeln, sinnliche Explosionen und nebulöse Glaubenssehnsucht ballen sich zu Dynamit aus Klangfarben. Man könnte „Die ersten Menschen“ als rauschhaft überbordende Jugendsünde belächeln. Aber man kann sie – wie in Frankfurt – auch als hellsichtige Warnung begreifen, wie gefährdet dünn der ethisch-moralische Zivilisationskitt ist.

Oper Frankfurt
Rudi Stephan: Die ersten Menschen

Sebastian Weigle (Leitung), Tobias Kratzer (Regie), Rainer Sellmaier (Bühne & Kostüme), Joachim Klein (Licht), Manuel Braun (Video), Bettina Bartz & Konrad Kuhn (Dramaturgie), Andreas Bauer Kanabas, Ambur Braid, Iain MacNeil, Ian Koziara,  Frankfurter Opern- und Museumsorchester

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