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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Guercœur

Die Hoffnung auf Demokratie in Zeiten banaler Despotie

(Frankfurt am Main, 2.2.2025) Dirigentin Marie Jacquot debütiert mit Albéric Magnards „Guercœur“ umjubelt an der Oper Frankfurt. Regisseur David Hermann verlegt derweil das Stück erfolgreich in eine zeitlose Moderne.

vonPatrick Erb,

Was für eine scheinbar unendliche philosophische Welt, gebannt in die Grenzen einer Oper! Da ist Ritter Guercœur, der seiner Republik Frieden, Wohlstand und vor allem die Demokratie gebracht hat. Mit sich selbst zufrieden, sollte er nun die Genüsse des (christlichen) Himmels kosten, doch er kann es nicht. Seine Gedanken, seine Sehnsüchte und seine Liebe kreisen um Ehefrau Giselle und sein Volk. Den mahnenden Worten der Allegorie Souffrance (Verzweiflung) zum Trotz lässt sich der Ritter aus dem Paradies verbannen und auf die Erde zurückschicken, wo sich bereits alles gegen ihn gewendet hat: Seine Frau findet die wahre sexuelle Erfüllung in Guercœurs Schüler Heurtal, die Republik ist zur Diktatur herangereift. Schließlich kehrt der für das Elend verantwortlich gemachte und gelynchte Guercœur desillusioniert in den Himmel zurück, wo ihm Häme, Trost und schließlich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Menschheit verkündet werden.

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Die Oper Frankfurt, die sich mit großem Engagement dem vergessenen, aber zweifellos hörenswerten Repertoire widmet, landet mit „Guercœur“, der nun erst zum dritten Mal seit der Uraufführung Premiere feiert, den nächsten Geniestreich. Vergessen vermutlich auch deshalb, weil Magnard sein Werk nicht vollenden konnte. Der Komponist starb in den Anfangstagen des Ersten Weltkriegs, als deutsche Soldaten in sein Haus eindrangen. Der befreundete Komponist Guy Ropartz rekonstruierte später den zweiten und dritten Akt anhand von Klavierauszügen.

Szenenbild aus „Guercœur“
Szenenbild aus „Guercœur“

Exzellentes Dirigat, gelungene Regie

Regisseur David Hermann, verantwortlich für die Inszenierung, verlagerte das Szenario, das – ähnlich wie Wagners „Parsifal“ oder Debussys „Pelléas et Mélisande“ – intuitiv in einer mythisch-mittelalterlichen Märchenzeit verortet ist, in eine zeitlose Moderne. Hermann befreit das Stück von der dunstigen, anspielungsreichen Bildsprache des Fin de Siècle und verleiht ihm dadurch Klarheit und Allgemeingültigkeit.

Noch beeindruckender als das Gesehene war das Gehörte. Marie Jacquot, die mit der Premiere von „Guercœur“ auch ihr Hausdebüt gab, formte das Werk mit schlankem, klar phrasiertem Stil, der stets nach Eleganz sucht, Höhepunkte dosiert wagt, das Lyrische betont, das Karnevaleske hingegen sparsam behandelt und daher nie ins Eklektische abrutscht. Magnard bietet oft Versuchungen dazu, denn seine ästhetischen Vorbilder sind offensichtlich: Von seinem Lehrer Massenet übernahm er die lyrischen Gesangslinien, von Berlioz die klar zugeordneten Motive, vom späten Wagner den Chor und die ausgedehnten instrumentalen Intermezzi. Über allem liegt ein hauchdünner Firnis von Debussy.

Szenenbild aus „Guercœur“
Szenenbild aus „Guercœur“

Ambitionierte Künstlerpersönlichkeit Albéric Magnard

Würde man Albéric Magnard musikalisch, mehr noch aber soziologisch deuten, er entspräche wohl dem, was man heute als Aktivisten oder „Public Intellectual“ bezeichnen würde. Der Sohn eines Pariser Bestsellerautors solidarisierte sich mit der frühen Frauenrechtsbewegung, war in der Dreyfus-Affäre gemeinsam mit Émile Zola Fürsprecher des zu Unrecht Angeklagten und ein begeisterter Demokrat. Politik, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, aber auch Religion und Philosophie bewegten ihn – und vieles davon findet sich in seinem Werk.

Vom paradiesischen Seelenheil …

Doch zurück zum Anfang: Das Werk setzt im Himmel ein. Ein Geisterchor preist die Wahrheit des Paradieses, irdische Versuchungen sollen dort vergessen sein. Eine offene Architektur, deren Fassade ästhetisch an den Bonner Kanzlerbungalow erinnert, gibt den Blick auf den toten Körper Guercœurs frei. Dessen Seele steht ungläubig daneben und beklagt ihr Schicksal. Bariton Domen Križaj verleiht dem Ritter mit kristallklarer, lyrischer Stimmführung Präsenz. Seine Stimme bewegt sich beeindruckend nah an den gläsernen Qualitäten eines lyrischen Tenors, ohne das Volumen eines Baritons zu verlieren.

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Szenenbild aus „Guercœur“
Szenenbild aus „Guercœur“

Souffrance (vipernhaft und herrlich missgünstig: Mezzosopran Judita Nagyová) findet Gefallen daran, Guercœur seine Hybris vor Augen zu führen, während Vérité die Integrität des Paradieses durch den Unentschlossenen gefährdet sieht. In einer ausdrucksstarken, hochvirtuosen Arie verbannt sie ihn dennoch, um die irdische Rebellion des Seins zu unterbinden. Sopranistin Anna Gabler verleiht der herausfordernden Rolle der Vérité souveräne Kraft, zeigt aber auch, dass Magnard seinen Sängern einiges abverlangt: Chor und Orchester müssen übersungen werden.

… bis zu den irdischen Leiden

Im zweiten Akt dient der Bungalow nun als Wohnsitz von Guercœurs Witwe Giselle (Mezzosopran Claudia Mahnke), die dort mit seinem einstigen Schüler und jetzigen Widersacher Heurtal lebt. Giselle gesteht ihrem ehemaligen Gatten, dass er ihre sinnlichen Begierden nie erfüllen konnte. Heurtal (AJ Glueckert) verkörpert den Machtmenschen mit beachtlicher stimmlicher Raffinesse, erreicht jedoch nicht das dynamische Volumen von Križaj.

Szenenbild aus „Guercœur“
Szenenbild aus „Guercœur“

Im dritten Akt stehen sich die einstigen Verbündeten in einem Plenarsaal im Stil der Vereinten Nationen gegenüber. Der Chor teilt sich in zwei politische Lager: ein demokratisches und eines, das Heurtal zum Diktator erklären will. Schließlich eskaliert die Auseinandersetzung, Guercœur wird getötet, der Saal bricht symbolstark auseinander – und der Ritter erfährt im Himmel die bittere Wahrheit: Die Menschen haben noch viel zu lernen. Doch die Hoffnung bleibt: Éspoir verkündet ihm eine glorreiche Zukunft für die Menschheit.

Wenn Demokratien scheitern

Rekurrierte Magnard in seinem Libretto noch auf die politische Lage zwischen den letzten Tagen des Zweiten Kaiserreichs und der fragilen Dritten Republik, so enthüllt David Hermann mit seiner Inszenierung die grundlegende Fragilität von Demokratien. Der Bungalow als Symbol der jungen Bonner Republik, die Vereinten Nationen am Rande des Scheiterns – die Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar. Auch wenn Magnards Oper textlich bisweilen über das Ziel hinausschießt, seine ambitionierten Menschheitsträume etwas belehrend wirken und gleichzeitig der Pessimismus um 1900 deutlich durchstrahlt, so bleibt die Botschaft zeitlos. Der Premierenabend in Frankfurt war phänomenal, farbenreich und, ja, auch ein wenig nachdenklich machend.

Oper Frankfurt
Magnard: Guercœur

Marie Jacquot (Leitung), David Hermann (Regie), Jo Schramm (Bühnenbild), Sibylle Wallum (Kostüme), Joachim Klein (Licht), Virginie Déjos (Chor), Mareike Wink (Dramaturgie), Domen Križaj, Claudia Mahnke, AJ Glueckert, Anna Gabler, Bianca Andrew, Bianca Tognocchi, Judita Nagyová, Chor und Statisterie der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester






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