Fromental Halévys (1799–1862) „La Juive“ war nach ihrer Pariser Uraufführung 1835 eine der meistgespielten Opern ihrer Zeit. Mit der Renaissance der Gattung Grand Opéra kehrte auch dieses sogar vom Egomanen Wagner geschätzte Werk auf die Bühnen zurück. Zumindest auf solche, die die Ressourcen für so einen Kraftakt und den entsprechenden programmatischen Ehrgeiz haben. Da die Oper Frankfurt in den letzten Jahren vor allem mit ihrer Verbindung von musikalisch-vokaler Qualität und szenischer Ambition in Deutschland den Ton angibt, nun also dort, als letzte große Premiere der laufenden Spielzeit, dieses musikalisch so überreiche wie politisch brisante Musterexemplar der Grand Opéra.
Eugène Scribes Libretto, in dem die Geschichte 1414 am Rande eines Konzils in Konstanz spielt, mochte im 19. Jahrhundert als Steilvorlage für historische Prachtentfaltung auf der Bühne taugen. Heute geht es eher darum, dem Kern einer Geschichte nahezukommen, die vor Augen führt, dass unnachgiebiger religiöser Fanatismus Gift für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ist. Auch, weil es für jene, die sich darüber hinwegzusetzen versuchen, tödlich enden kann.
Alptraumartig surreale Störungen einer gegenwartsnahen Alltagsbanalität
Wenn heute der jüdische Goldschmied Eléazar und seine Ziehtochter Rachel Opfer des in ein gesetzliches Kontaktverbot über Religionsgrenzen hinweg gegossenen Hasses herrschender christlicher Fundamentalisten (respektive Machtpolitiker) werden, die die Juden auf barbarische Weise umbringen, ruft das die Bilder von Judenhass, Holocaust und aufflackerndem Antisemitismus im Kopf der Zuschauer quasi von selbst auf den Plan. Auch wenn die Bühne, wie jetzt in Frankfurt, der ausgeschnittene, sich nach oben verjüngende, konkav gebogene Gerüstturm von Klaus Grünberg in seiner Stilisierung weit davon entfernt ist. Da der von Tilman Michael exzellent einstudierte erweiterte Opernchor in Alltagszivil und Éléazar im Business-Anzug auftreten, wirkt es vor allem irritierend, wenn im Vordergrund die Asche eines gerade verbrannten Menschen in einen Eimer geschaufelt wird und alle anderen unbeirrt mit einem Großreinemachen für ein bevorstehendes Fest beschäftigt sind. Diese alptraumartig surrealen Störungen einer gegenwartsnahen Alltagsbanalität eskalieren im Laufe des Abends. Sie werden gar zu einem methodischen Leitmotiv der Erzählweise von Regisseurin Tatjana Gürbaca, die sich auch in den Kostümen von Silke Willrett widerspiegelt.
Bildersprache nah an Zeichen heutiger Hassausbrüche
Wenn der Goldschmied die verordnete Festtagsruhe mit seiner Arbeit bewusst stört, eskaliert die Empörung sofort und man malt ihm mit Kreide einen Davidstern auf den Rücken. Als dann der Kardinal Brogni einschreitet, zur Mäßigung mahnt und ihm den Davidstern wieder abwischt, malt sich jeder in der von Hass getriebenen Menge wie zum Trotz ein Kreuz auf die Brust. Wenn dann zwei Puppen, die Rachel und Éléazar verkörpern, aufgehängt und so beschossen werden, dass der einen ein Bein und der anderen der Kopf wegfliegt, dann nähert sich die Bildersprache der Inszenierung am deutlichsten heute immer wieder verwendeten Zeichen von Hassausbrüchen.
Kleine Kollisionen mit der szenischen Logik
Sonst bleiben die Bilder in einer Distanz, die die Vorbilder der Wirklichkeit als teils surreale Bilder der Kunst aufgreifen. Das ist zwar im Prinzip ein Vorzug, aber kollidiert im Detail dann doch gelegentlich mit der szenischen Logik. So irritiert nicht nur der erste Auftritt von Eudoxie als schnippische Shoppinglady der Kaisernichte, sondern vor allem die Tatsache, dass sie ihren eigenen Ehemann nicht zu erkennen scheint, als er ihr direkt gegenübersteht. Hier entsteht der Eindruck, dass sie das Spiel der Ehefrau spielt, die weiß, was sie von der ehelichen Treue ihres Mannes zu halten hat und mit allen Tricks um ihn kämpft. Dazu gehört auch die Szene, in der sie Rachel zum Kleidertausch animiert, um ihren Mann in deren Kleidern zu „verführen“. Als sie Rachel überzeugen will, alle Schuld auf sich zu nehmen, um ihren Mann vor dem Todesurteil zu bewahren, setzt sie folgerichtig ihre Kinder als Argument ein und geht mit ihnen gemeinsam vor Rachel auf die Knie. Was diese Eudoxie versucht, ist nachvollziehbar, ihre Raffinesse ist auch in der Übertreibung brillant gespielt, sympathisch wird sie einem aber nicht.
Wenige Figuren sammeln echte Sympathiepunkte
Das gilt eigentlich mehr oder weniger auch für alle anderen. Éléazar ist von Rachegelüsten getrieben und gerät nur einmal ganz kurz ins Wanken, als ihm bewusst wird, dass er seine (Zieh-)Tochter, die er ja wirklich liebt, seiner Rache opfern will. Über den Reichsfürsten Leopold, der sich bei Rachel und ihrem Vater als Jude einschleicht und eigentlich alle hintergeht, lässt sich eh kaum etwas substantiell Freundliches sagen. Der Film, den Eudoxie zur Ballettmusik beim Fest zu seinen Ehren ablaufen lässt und der seine Heldentaten in maßloser Übertreibung als animierten Comic zeigen, wird zum blanken Hohn. Er enthält auch eine Szene, in der der Held die Attacke einer Frau mit Teufelshörnern abwehrt und hinterrücks erdolcht. Sympathiepunkte mag neben Rachel eigentlich nur Kardinal Brogni verbuchen, weil er Éléazar ein Angebot zur Versöhnung macht, das der ausschlägt. Als leiblicher Vater hat er keine Ahnung vom Überleben seiner Tochter, ist eh ein im eigenen persönlichen Leid gereifter Mann, der am Ende am Boden zerstört ist. Die Macht, den Wahnsinn zu stoppen und das Kontaktverbot zwischen Christen und Juden aufzuheben, hätte er wahrscheinlich auch nicht gehabt.
Ein opulenter Alptraum des Todes
Am Ende kippt alles ins Groteske. Der ganze Chor ist da ein wenn auch opulenter Alptraum des Todes. Trotz einiger Einwände und offener Fragen, die einzelne Szenen hinterlassen, entfaltet der Abend eine ungeheure Wucht durch seine musikalischen Qualitäten. Unter Leitung von Henrik Nánási lässt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester die Musik in allen Farben leuchten, hält im Wechsel von lyrischen Passagen und dem Auftrumpfen mit großer Geste durchweg die Spannung und überdeckt nie die Sänger. John Osborn ist der wohl derzeit beste Éléazar weltweit. Er inspiriert mit emotionaler und höhenstrahlender Durchschlagskraft und konditionsstarker Eloquenz ein Ensemble von Rollendebütanten, das durchaus bereits Referenzqualität hat.
Grandioses Ensemble
Grandios in der mühelosen Entfaltung ihrer wohltimbrierten Stimme macht Amber Braid jeden Auftritt von Rachel zum Ereignis. Hinreißend leichtfüßig und koloratursicher wird Eudoxie dank Monika Buczkowska zu einer schillernden Figur, die einen in Bann zieht. Gerard Schneider gelingt es (fast) durchweg, seinen Léopold auch stimmlich durchdringen zu lassen. Mit machtvollem Bass beglaubigt Simon Lim auch die Gebrochenheit von Kardinal Brogni. Sebastian Geyer als Ruggiero und Danylo Matviienko als Albert komplettieren dieses grandiose Ensemble.
Oper Frankfurt
Halévy: La Juive
Henrik Nánási (Leitung), Tatjana Gürbaca (Regie), Klaus Grünberg (Bühne, Licht, & Animation), Anne Kuhn (Bühne Mitarbeit), Silke Willrett (Kostüme), Carl-Christian Andresen (Mitarbeit Kostüm), Nadja Krüger (Video), Tilman Michael (Chor), Maximilian Enderle (Dramaturgie), Ambur Braid, John Osborn, Gerard Schneider, Monika Buczkowska, Simon Lim, Sebastian Geyer, Danylo Matviienko, Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester