Nach Wagners „Ring“ sind Berlioz „Troyens“ zweifelsfrei eine der größten Herausforderungen für ein Opernhaus. Die Orchesterbesetzung ist, mit sechs Harfen, jeder Menge Bläser, darunter allein acht Hörner, und viel exotischem Schlagwerk, so exorbitant wie die musikalischen Anforderungen an den Chor und das 18köpfige (!) Ensemble und die schiere Länge des Werks. Die Frankfurter Oper, die außer dem Énée alle Rollen aus dem eigenen Ensemble besetzen kann, schultert diese Probleme anscheinend mühelos und hat eine packende und vor allem musikalisch herausragende Aufführung zustande gebracht.
Berlioz-Experte John Nelson animiert Chor und Orchester zu einer Ausnahmeleistung
Deren Zentrum ist zweifelsfrei John Nelson. Der 75-jährige Dirigent dirigierte bereits 1973 seine ersten „Troyens“ an der MET in New York und nutzt bei seinem späten Frankfurter Debut seine genaue Kenntnis dieses außergewöhnlichen Stückes für eine ungewohnt lebendige und klangsinnliche Wiedergabe, animiert Chor und Orchester der Oper, nach leichten Wacklern, vor allem im Blech, zu Beginn zu einer Ausnahmeleistung. Dabei bindet Nelson die vielen wilden Einzelheiten, die oft spektakulären Mini-Effekte in eine große Linie ein, breitet das Geschehen in einem mächtigen, sich nie aufstauenden Fluss aus. Diesen nimmt die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr in ihrer Inszenierung auf und setzt immer wieder die Drehbühne ein, ohne dass es je aufdringlich wird.
Das Private kippt ins Politische, der Krieg in die Familienaufstellung
Zentraler Ort ihrer Lesart ist eine Art Ball- oder Rittersaal, ein säulengesäumter Prunkraum – mit Edelholzwänden in Troja, mit luftigen, weißen Vorhängen in Karthago. Hier erkundet Höckmayr Stück und Figuren und versucht in erster Linie Berlioz‘ Musik und seine ungewöhnliche Tableau-Dramaturgie hör- und erfahrbar zu machen. Dabei hat ihre Inszenierung durchaus ihre Leerstellen, verweigert handwerkliche Herausforderungen wie das große Jagdbild im vierten Akt, kann nicht jeden Takt der gewaltigen Instrumentalpassagen mit Leben füllen, erfindet aber eine starke, symbolkräftige Bildwelt samt riesigem Pferd und vermittelt vor allem Berlioz‘ kruden Stückaufbau, etwa die Abhandlung des trojanischen Krieges in zwei Akten, als Freude über die Ankunft des Pferdes und als Moment der Niederlage in der schon lange tobenden Schlacht, beides fast ohne äußere Handlung. Auf der anderen Seite gelingen großartige Passagen, etwa der gesamte vierte Akt, in dem Höckmayr so behutsam wie dicht die Entwicklung von Dido und Énée von Verliebten zu Liebenden nachzeichnet. Hier bannt jede Einzelheit, wird man durch Merkurs, von Thomas Faulkner wunderbar elastisch geschmetterten „Italie!“-Rufe fast genauso aus dem Traum gerissen wie das Liebespaar. Höckmayr präsentiert das mythische Geschehen als eine als eine Art überzeitliche Parabel. Das Private kippt ständig ins Politische, der Krieg in die Familienaufstellung. Dazu bauen die wechselnden Schauplätze auf der Drehbühne, die Tänzer und Statisten immer wieder eine Parallelwelt auf, ein Gespinst von Göttern, Toten, Ängsten und Sehnsüchten.
Kassandra und Dido – zwei komplementäre Frauenfiguren berühren uns schmerzhaft
Im Zentrum beider Welten stehen die beiden Hauptfiguren. Kassandra wird nicht zugehört, oft wird sie nicht einmal wahrgenommen. Sie ist schmerzhaft allein wie kaum eine andere Opernfigur. Selbst ihren großen Handlungsmoment, den von ihr initiierten kollektiven Selbstmord der trojanischen Frauen, nimmt Höckmayr ihr weg, indem sie ihn schlicht nicht inszeniert. Tanja Ariane Baumgartner nähert sich der Figur mit erdigem, leidenschaftlich aufgeladenem Mezzo und lässt immer wieder in Kassandras wunde Seele blicken. Noch berührender gelingt Claudia Mahnkes Dido, eine geliebte Herrscherin, die sich von ihrer Machtposition ständig umzuschauen, ständig um diese zu fürchten scheint, eine fast krankhaft ängstliche Frau und doch eine große Liebende. Fast ausschließlich zarte Töne gibt Mahnke dieser Figur. Mit dramatischer Kraft, aber keinerlei Heroinenpathos zwingt sie dem Zuschauer ihre Situation geradezu auf. Ihr Selbstmord tut weh. Bindeglied zwischen diesen beiden, fast als Komplementärfiguren gezeigten Frauen ist der Énée von Bryan Register mit expansionsstarkem und, trotz gelegentlicher leichter Intonationsprobleme, angenehm kultiviert geführtem Tenor. Fantastisch singt und spielt das ganze große Ensemble.
Oper Frankfurt
Berlioz: Les Troyens
Ausführende: John Nelson (Leitung), Eva-Maria Höckmayr (Regie), Jens Kilian (Bühne), Saskia Rettig (Kostüme), Martin Dvorak (Choreografie), Tilman Michael (Chor), Bryan Register (Énée), Claudia Mahnke (Dido), Tanja Ariane Baumgartner (Kassandra), Julia Nagyova (Anna), Gordon Bintner (Chorèbe), Alfred Reiter (Narbal), Martin Mitterrutzner (Jopas), Elizabeth Reiter (Ascagne), Michael Porter (Hylas), Daniel Miroslaw (Panthée), Thomas Faulkner (Hector/Mercure), Chor und Extrachor der Frankfurter Oper, Frankfurter Opern- und Museumsorchester