„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding“, singt die Feldmarschallin so melancholisch wie weise. Die Technik ist es zuweilen auch. Am Samstagabend fühlte man sich in der Oper Halle an jene Streiks erinnert, die in Paris aus einer geplanten Premiere im günstigsten Fall eine konzertante Vorstellung gemacht haben. In Halle streikte aber kein Mensch, sondern der Eiserne Vorhang. Der ging nach einem Strom- bzw. Computerausfall einfach nicht pünktlich hoch. In so einer Situation ist es von Vorteil, wenn sich der Intendant bei der Suche nach einer Lösung nicht auch mit dem Regisseur rumstreiten muss, weil er selbst inszeniert und ein hochmotiviertes Ensemble in den Startlöchern hat. Hinzu kommt: So vollbesetzt wie am Premieren-Abend ist die Oper in Halle auch nicht mehr bei jeder Vorstellung. Kurz und gut, der Intendant kam eine Viertelstunde nach dem geplanten Beginn durch die Tür im Eisernen, verkündete das Malheur, bot an, gegebenenfalls die Karten zurückzunehmen und verkündete, dass man ansonsten optimistisch bleibe und einfach mal auf dem schmalen Streifen vor dem Eisernen Vorhang anfange zu spielen.
Der „Eisern“ bleibt unten: von der Lust an der Improvisation
Und das taten dann die Staatskapelle unter ihrem GMD Fabrice Bollon mit Verve und die Protagonisten des ersten Aufzuges mit erkennbarer Lust an der Improvisation und den Chancen, die auch in so einem Sonderfall liegen. Es funktionierte erstaunlich gut. Nicht nur, weil Romelia Lichtenstein (die schon in der Vorgängerinszenierung 2006 diese Lieblingsrolle vieler Strauss-Liebhaber verkörperte) und Yulia Sokolik ohne Hosenrollenpeinlichkeit und mit der Kraft ihres jugendlich hellen Mezzos ein dazu glaubwürdig ihren im Stück halb so alten aktuellen Liebhaber Octavian verkörpert. Lichtenstein spielt die subtilen Andeutungen des Textes einfach mit. Hier ein erinnernder Blick, da eine hochgezogene Augenbraue oder beim Tenor die abgewischten Lippen, nach einem Kuss, den sie ihm hinter dem Eisernen Vorhang offensichtlich gegeben hat. Es ist außerdem witzig, wenn sich Octavian einfach flach auf den Boden legt, statt sich in der Kleiderkammer zu verstecken, um der befürchteten Begegnung mit dem Ehemann seiner Geliebten zu entgehen. Oder wenn sich dann der mit markiger Stimmgewalt (und einer Distanz zum Vokal „u“) auftrumpfende Ki-Hyun Park als in die Zweisamkeit platzender Ochs auf Lerchenau und Michael Zehe als seriöser Notar den Ehevertrag besprechen will. Über die Köpfe der Feldmarschallin und des seine Arie schmetternden Tenors (Chulhyun Kim) hinweg. Schon in dieser vor allem durch die persönliche Ausstrahlung der Beteiligten lebenden Szene ist der Ochs hier auf einen etwas schmierigen Grabscher reduziert. „Da geht er hin, der aufgeblasene schlechte Kerl“, singt Marie-Therese denn auch mit vollem Recht.
Zweiter Aufzug: der Überwältigungseffekt der Ausstattung
In der ersten Pause war in den Foyers kaum jemand zu hören, der mit dieser Variante wirklich unzufrieden gewesen wäre. Dageblieben waren ohnehin nahezu alle. In dieser Pause dann bekam der Hausherr mit seinem Optimismus recht. Als im zweiten Aufzug der Vorhang endlich den Blick auf Ausstatter Kaspar Glarners Bühne und das aufmarschierte Personal des Herrn von Faninal freigab, wurde das prompt mit einem Sonderapplaus bedacht. Der dürfte der Tatsache, dass die Technik jetzt wieder ihren Dienst tat, ebenso gegolten haben, wie dem Überwältigungseffekt der Ausstattung selbst. Kein Stadtpalais gab es da, aber ein Fest mit phantasievoller Barockkostümierung des Personals im Hause des ehrgeizigen Neugeadelten, der seinen gesellschaftlichen Aufstieg mit der Verheiratung seiner Tochter mit einem Altadligen krönen und sich das einiges kosten lassen will. Es ist ein abstrakter, marmorierter Spiegelsaal, auf dessen Wänden sich die handelnden Figuren mitunter vergrößert als Videoprojekten selbst bespiegelt finden, dessen Säulen sich bewegen können und für dessen Möblierung ein paar Stühle und ein Sofa reichen.
Hier bewegt sich die Leitmetzerin (Vanessa Waldhart) auf Spitzen wie eine Ballerina über den spiegelglatten Boden. Hier ist die Stütze des Hallenser Ensembles, Gerd Vogel, ein mit modischem Überschuss gekleideter und mit einer Frisur der deutlich jüngerer Jahrgänge aufgeputzter Faninal. Der Erzkomödiant bedient die Überzeichnung, aber rettet zugleich den Faninal instinktsicher vor einer Bloßstellung oder Veralberung der Figur. Die wunderbar höhensichere Franziska Krötenherrdt als Sophie hat es da mit ihrem karierten Minirock zu den langen weißen Stiefeln deutlich schwerer. Wenn der immerhin schmuck herausgeputzte Octavian mit der Silberrose bei ihr aufkreuzt und Fabrice Bollon mit dem Orchester in die Beglückungszone der Musik von Strauss aufsteigt, bleibt die Szene diesen singulären Revuetreppen- oder Der-Blitz-schlägt-ein-Moment schuldig.
Potenzprobleme und Nachfolger in Liebesdingen
In Sachen Theatervergnügen ist das genauso bedauerlich wie der Ersatz der Wirtshaus-Maskerade durch einen Exkurs über die überdeutlich zur Schau gestellten Potenzprobleme des Ochs im Rotlicht-Etablissement. Das Rätsel, wieso der Kommissarius zu einem Penner mutiert ist, kann auch Michael Zehe nicht lösen. Das Schlussduett von Octavian und Sophie wird zu einem musikalischen Schmankerl, weil auch Bollon dazu die zarten Traumtöne anschlägt, die er sonst eher robust umgeht. Wenn die Feldmarschallin und Faninal am Ende in verschiedene Richtungen abgehen, dann wird ihr wohl bald Octavians Nachfolger begegnen. Ihr Diener Mohamed kann es nicht sein – möglicherweise gab es ihn oder einen Verwandten ja im inszenierten ersten Akt – das bleibt vorerst ein Geheimnis. Im dritten gibt es ihn jedenfalls nicht. Da wird kein Taschentuch bewegt, sondern gleich der ganze Vorhang. Von hinten und wer weiß von wem. Es muss schließlich nicht jedes Geheimnis gelüftet werden.
Am Ende viel Beifall für ein in jeder Partie vorzügliches Ensemble.
Bühnen Halle
R. Strauss: Der Rosenkavalier
Fabrice Bollon (Leitung), Walter Sutcliffe (Regie), Kaspar Glarner (Bühne), Kaspar Glarner (Kostüme), Anke Tornow (Video), Boris Kehrmann (Dramaturgie), Romelia Lichtenstein, Ki-Hyun Park, Yulia Sokolik, Gerd Vogel, Franziska Krötenheerdt, Vanessa Waldhart, Robert Sellier, Gabriella Guilfoil, Chulhyun Kim, Michael Zehe, Staatskapelle Halle, Chor der Oper Halle