Spätestens, wenn das „Dies irae“ losdonnert, verlässt Verdi den Konsens üblicher sakraler Andacht und wird in seiner Sprache grundsätzlich. Seine Tage des Zornes machen Angst, könnten aber genauso ein Aufschrei der Rebellion sein. Mit dieser Messa da Requiem hatte der Italiener weit mehr im Sinn, als den reichlich vorhandenen noch eine weitere Totenmesse hinzuzufügen. Hier reicht ein großer Musiker und kritischer Geist die Musik im Format von Michelangelos jüngstem Gericht in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans nach. Und liefert den subtilen Zweifel am Heilsversprechen der Kirche gleich mit.
Raumbühne eröffnet neue Sichtweisen in großer Nähe von Zuschauern und Akteuren
In der jüngsten Bühnenversion in der neuen Raumbühne in Halle werden diese Zweifel gleichsam als Parodie zelebriert. Wie in der Kirche wird da einmal Wein an die Gemeinde ausgeschenkt. „Babylon“ heißt die neue Raumbühne. Mit der ersten Version namens „Heterotopia“ hatte Bühnenbildner Sebastian Hannak den Theaterpreis „Faust“ bekommen. Die Oper Halle hat es mit ihrer streitbaren Ästhetik beim Jahres-Ranking der „Deutschen Bühne“ unter anderem wegen der Bespielung von „Heterotopia“ sogar zum ersten Platz unter den Bühnen in der Kategorie „Abseits der großen Zentren“ geschafft. Intendant und Regisseur Florian Lutz baut und hofft auch beim Start in das dritte Jahr seiner Intendanz auf den Effekt der Raumbühne, in der es wieder eine Produktion der Oper, des Balletts („Bizarr“) und des Schauspiels (einer Theaterversion von Axel Ranischs Roman „Nackt über Berlin“) zum Auftakt und dann ein weiteres Opernprojekt (Meyerbeers „Afrikanerin“) in der Folge gibt.
Durch die Überbauung des Parketts und den auf drei Seiten der Bühne mehrstöckig errichteten Zuschauergalerien, büßt die Oper zwar etliche der 680 maximal zur Verfügung stehenden Plätze ein, bleibt aber mit den verbleibenden 550 Plätzen immer noch deutlich über der durchschnittlichen Auslastung von 400 bis 500 Karten. Der Effekt, den Zuschauern, die darauf Lust haben, neue Sichtweisen in größerer Nähe der Akteure zu eröffnen, überwiegt so allemal die fiktiven Einbußen, die dafür in der Kasse hinzunehmen wären.
Das Orchester im Zentrum des Geschehens: Die Wucht von Verdis Musik überträgt sich direkt
In der Neuauflage gibt es einige Verbesserungen – die Wichtigste betrifft das Orchester, das sich jetzt nicht mehr aus der Tiefe des Grabens mit ringsherum platzierten Stimmen mischen muss, sondern sichtbar und gut hörbar das Zentrum des Geschehens bildet. Christopher Sprenger bewältigt die dennoch gewaltige Herausforderung eindrucksvoll, die Musiker der Staatskapelle, das Solisten-Quartett aus Romelia Lichstenstein, Svitlana Slyvia, Ki-Hyun Park und dem Tenorgast Eduardo Aladrén und den auf 70 Köpfte aufgestockten Chor zu koordinieren.
Das musikalische Zentrum versendet seine Energieschübe in originaler Lautstärke, die Sänger profitieren, wenn sie von entlegenen Stadtteilen Babylons aus singen, von einer kaum spürbaren – also handwerklich ziemlich gut gemachten – Verstärkung. Weil die Zuschauer zum Teil die Sänger in Tuchfühlung erleben, überträgt sich natürlich auch die Wucht von Verdis Musik direkt. Übrigens ist für jene Zuschauer, die die Distanz der klassischen Guckkastenbühne dem teilnehmenden Hören vorziehen, der erste und der zweite Rang des Opernhauses vorbehalten.
Postapokalyptische Vision des Untergangs der Menschheit
Alle anderen werden hineingezogen in eine postapokalyptische Vision des Untergangs der Menschheit, in der die Affen (so wie im Filmklassiker „Planet der Affen“) die Reste der menschlichen Zivilisation vereinnahmt haben. Die vier Solisten in Verdis Totenmesse sind Überlebende, die zwischen Müllsäcken, in einem offenbar noch funktionierenden Labor oder in der Wildnis des urbanen Dschungels zwischen Gründerzeitfassaden überlebt haben. Aber auch in der Welt der Affen ist der Kampf um die Macht im vollen Gange und es geht – wie in der Bibel – nicht ohne Brudermord ab.
Messa da Requiem: Das Premierenpublikum in Mitmachlaune
Die Zuschauer werden vor dem Betreten der Bühne animiert, Schutzanzüge und auch Affenmasken anzulegen, um sozusagen unerkannt in diesem Dschungel zu überleben und auf die Rückeroberung des Planeten zu hoffen. Zum „Lux aeterna“ dann gelingt der Menschen-Aufstand – die Masken fallen, die Affen sind in einer großflächigen Simulation ausgeschaltet worden – am Ende kehren die Menschen als Klone ihrer selbst aus dem Untergrund zurück. Das Ende von Verdis „Requiem“, dieses eindringliche „Libera me“, also „Befreie mich“, wird von ihnen ganz und gar individuell als ganz banale Smartphone-Botschaften und -Wünsche an wen auch immer zelebriert.
Der Mensch ist auch nach der Erfahrung einer selbstverschuldeten Katastrophe auf sich selbst zurückgeworfen. Er bleibt allein mit sich – ohne Hoffnung auf Erlösung und ein höheres Wesen. Gefangen in einem Egoismus, den die Energie von Neoliberalismus und Hedonismus speist. Das Nachdenken darüber ist ein ziemlich hoher Ertrag nach einem ungewöhnlichen Mitmachabend in der Oper! Das Premierenpublikum spielte mit und ließ sich nicht nur im wahrsten Wortsinn gefangen nehmen.
Oper Halle
Verdi: Messa da Requiem
Ausführende: Christopher Sprenger (Leitung), Florian Lutz (Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Mechthild Feuerstein (Kostüme), Konrad Kästner (Video), Romelia Lichtenstein, Svitlana Slyvia, Eduardo Aladren, Ki-Hyun Park