„CARMEN“ prangt in großen Lettern hoch über der Bühne an der oberen Felskante des Steinbruchs St. Margarethen. Die Buchstaben erinnern an den berühmten Schriftzug aus den Hollywood Hills. Das entspricht der Absicht von Regisseur Arnaud Bernard, der für seine Neuinszenierung von Georges Bizets berühmter Oper die gigantische Freilichtbühne im österreichischen Burgenland in ein Hollywood-Filmstudio der 1950er Jahre verwandelt. Hier, so das Regiekonzept, soll ein „Carmen“-Film gedreht werden. Die Bühne zeigt also ein Filmset mit drehbaren Kulissen, diversem Equipment und einem vielköpfigen Filmteam vor und hinter den Kameras, inklusive ständiger „Action“- und „Cut“-Rufen. Diese passen sich während der Aufführung in St. Margarethen verblüffend gut in die Opéra-Comique-Nummernstruktur von Bizets Werk mit seinen zahlreichen Instrumentalzwischenspielen ein.
Der Opern-Evergreen auf dem Filmset
Die auf der Bühne gezeigten Dreharbeiten machen schnelle Ortswechsel plausibel. Die dramatischen Kernszenen der „Carmen“-Handlung wirken auf diese Weise sogar noch konzentrierter als sonst. Außerdem sind Parallelhandlungen möglich, wenn im behaupteten Filmset etwa zwei Szenen gleichzeitig gedreht werden. Auf diese Weise kann die extrem breite Bühne von St. Margarethen produktiv genutzt werden. Übrigens wird, nebenbei bemerkt, auf die heute inflationär und häufig ziemlich unmotiviert eingesetzten Effekte von Videos komplett verzichtet. In diesem Rahmen einer behaupteten Filmproduktion wird die „Carmen“-Handlung ins Spanien der 1930er Jahre verlegt, in die Zeit des Spanischen Bürgerkrieges. Zur Erinnerung: Zwischen 1936 und 1939 bekämpften sich Republikaner, die Anhänger der Zweiten Republik, und Nationalisten, die rechtsgerichteten Putschisten unter General Francisco Franco. Statt einer Handvoll Soldaten, die die Tabakfabrik in Sevilla bewachen, sind es nun zwei Dutzend Uniformierte, als Nationalisten zu identifizieren, die Dienst haben. Der bald Carmen verfallene Don José ist einer von ihnen. Dagegen sind Carmen und ihre Schmugglerfreunde hier Verteidiger der Republik, die mitunter als Guerilla im Untergrund operieren und Mitstreiter aus dem Gefängnis befreien.
Verortung im Spanischen Bürgerkrieg – Carmen als „neue Frau“ der 1920er Jahre
Was zunächst nach einer verstiegenen Regietheateridee klingt, erweist sich als überraschend schlüssige Erzählung der Handlung. Die Verortung in die Zeit des Spanischen Bürgerkriegs gibt den dramatischen Konflikten zwischen den Personen eine zusätzliche politische Brisanz und hat gleich mehrere Vorteile: Die sattsam ausgereizten, heute altbackenen Exotismusklischees des Librettos können erfolgreich umschifft werden. Die in der Oper angelegten Konflikte zwischen dem aus Nordspanien stammenden Soldaten Don José und der in Andalusien lebenden Roma Carmen mit ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld verschärfen sich angesichts politischer Gegnerschaft zweier Bürgerkriegsparteien. Gleichzeitig ist Carmen hier nicht exotisierte Femme fatale, sondern eine in den Aufbrüchen der 1920er Jahre sozialisierte „Neue Frau“ mit Bubikopf, die als Arbeiterin in der Zigarettenfabrik Hose und Männerhemd trägt.
Daneben erlaubt die Behauptung, es werde im Hollywood der 1950er Jahre ein „Carmen“-Abenteuerfilm gedreht, natürlich spektakuläre Schaueffekte und Actionszenen. Bereits während der Ouvertüre sind Straßenkämpfe mit Barrikaden, brennenden Autos und Kulissen sowie Stunts zu sehen. Beim Streit der Arbeiterinnen in der Tabakfabrik im ersten Akt liegt die Gefahr eines Aufruhrs in der Luft. Im zweiten Akt kommt es in der Taverne von Lilas Pastia, nun ein konspirativer Treffpunkt von Republikern, dann auch zu einer brutalen Razzia der Franco-Soldaten. Carmen und ihre Leute leisten dabei Widerstand. In der Inszenierung von Arnaud Bernard wird der Befehlshaber Zuniga erschossen, während gleichzeitig am anderen Ende der Bühne die republikanischen Kämpfer ein Transparent mit dem berühmten Schlachtruf „No pasarán!“ entrollen. Mit dieser Parallelhandlung endet der zweite Akt in St. Margarethen.
Heftige Böen und Starkregen zwingen zum Abbruch der Premiere
Am Premierenabend streifte während der Pause den Festivalort im Steinbruch eine Gewitterzelle mit heftigen Böen und Starkregen, so dass Intendant Daniel Serafin schweren Herzens die Aufführung abbrechen musste. Es blieb also die Frage offen, wie das Geschehen um Carmen und Don José im Bürgerkriegsszenario weitergehen würde. Vor allem auch, wie sich die Liaison zwischen Carmen und dem Stierkämpfer Escamillo entwickeln könnte. Dieser steigt bei seinem Auftritt im zweiten Akt aus einer schwarzen Limousine, im Gefolge hoher franquistischer Militärs, umschwärmt von bourgeoisen Señoras. Während sich also die Premierengäste in St. Margarethen durch den Regen zu den Parkplätzen durchschlugen und auf den Heimweg machten, wussten die Zuschauer am Fernsehen bereits mehr: Der TV-Sender ORF III hat die Premiere leicht zeitversetzt übertragen und griff nach der Pause auf einen Mitschnitt der Generalprobe zurück: Der tragische Bühnentod der Protagonistin wird in dieser „Carmen“-Inszenierung konsequent in den Kontext des Bürgerkriegs eingebettet. Das Konzept geht überzeugend auf.
Eine glückliche Besetzung
Musikalisch war die Premiere sowohl in den Haupt- als auch in den Nebenpartien glücklich besetzt. Joyce El-Khoury als Protagonistin blieb anfangs während der Auftrittsarie der Carmen, der berühmten „Habanera“, unter ihren Möglichkeiten. Lag es womöglich daran, dass Dirigent Valerio Galli hier ein ungewöhnlich flottes Tempo anschlug? Bald darauf steigerte sich El-Khoury jedoch und überzeugte mit stimmlicher Geschmeidigkeit, enormer Präsenz und charakterstarkem Wandlungsvermögen, mit pointierter Phrasierung und dynamisch fein abgestufter, sorgfältig gestalteter Expressivität.
Mikolaj Bonkowski gab mit sonorer Kraft einen kernigen Zuniga, Brian Michael Moore einen sehr jugendlichen Don José mit schlankem Tenor. Vanessa Vasquez als Micaëla spielte nach anfänglichen Härten im Timbre sehr überzeugend ihre Stärke im Lyrischen aus. Vittorio Prato füllte die Partie des Stierkämpfers Escamillo mit Spannkraft, Ausstrahlung und Elan. Sehr gelungen und auf den Punkt war auch das Quintett von Carmen und ihren Gefährten im zweiten Akt, das die komödiantischen Schichten von Bizets Partitur zutage förderte. Dirigent Valerio Galli entlockte dem Piedra Festivalorchester insgesamt ein transparentes, differenziertes Klangbild mit viel Strahlkraft und ausgeprägten Konturen in den tiefen Lagen. Die rhythmische Energie wurde federnd und temporeich entfesselt. Trotz der heftigen Wetterunbillen bei der Premiere also ein vielversprechender Start in die aktuelle Saison für die Oper im Steinbruch in St. Margarethen: mit einer so packenden wie reflektierten Lesart von Bizets unverwüstlichem Opern-Evergreen.
Oper im Steinbuch St. Margarethen
Bizet: Carmen
Valerio Galli (Leitung), Arnaud Bernard (Regie), Alessandro Camera (Bühnenbild), Carla Ricotti (Kostüme), Ran Arthur Braun (Leitung Stunts), Volker Werner (Sounddesign), Joyce El-Khoury, Brian Michael Moore, Vanessa Vasquez, Vittorio Prato, Aleksandra Szmyd, Sofia Vinnik, Marco Di Sapia, Angelo Pollak, Mikolaj Bonkowski, Ivan Zinoviev, Philharmonia Chor Wien, Walter Zeh (Choreinstudierung), Stunts und Statisterie der Oper im Steinbruch, Piedra Festivalorchester