Geplant oder Zufall? In Köln korrespondieren Schauspiel, Oper und die Wirklichkeit gerade auf eine Weise, die außergewöhnliche Kunstanstrengungen zusätzlich legitimiert. Im Schauspiel Köln kann man in der weit draußen liegenden, gleichwohl charmant-provisorischen Spielstätte Depot in Armin Petras’ Bühnenversion von Eugen Ruges Roman „Metropol“ nacherleben, was stalinistischer Terror mit seiner eigenen Nomenklatura anrichtet. Selbst wenn deren Vertreter in diesem kafkaesken Moskauer Hotel den großen Terror der 30er Jahre überleben.
Ein großformatiges Meisterwerk der Moderne
Und in der Oper – auch die hat sich schon viele Jahre mehr als ursprünglich geplant im Provisorium Staatenhaus auf der Deutzer Rheinseite häuslich eingerichtet – ist es der scheidenden Intendantin Birgit Meyer gelungen, gegen alle Corona- und sonstigen Widrigkeiten ein großformatiges Meisterwerk der Moderne zu stemmen. „Der Meister und Margarita“, nach dem Roman von Michail Bulgakow (1891-1940), ist das Hauptwerk des 1944 in Leverkusen geborenen und mit Köln eng verbundenen Komponisten York Höller. Der Roman war mit systembedingter Verzögerung erst 1967 erschienen. Die Oper hatte kurz vor dem Ende der Sowjetunion 1989 in Paris ihre von Hans Neuenfels und Lothar Zagrosek besorgte Uraufführung. Hier in Köln gab es 1991 die deutsche Erstaufführung. Zuletzt hatte Jochen Biganzoli 2013 damit in Hamburg Furore gemacht.
Noch einer von Stalins Wiedergängern
In der zweiten Kölner (und insgesamt erst vierten) Produktion war jetzt der für den neuen Bayreuther „Ring“ angeheuerte, junge Regisseur Valentin Schwarz dafür zuständig, den Teufel in Moskau auftreten und die Puppen tanzen zu lassen. Dass einer von dessen (und wie sich jetzt zeigt) von Stalins Wiedergängern dort gerade seine Maskierung fallen lässt, ist der sprichwörtliche rosa Elefant im Raum. Ohne dass man direkt mit der Nase drauf gestoßen werden müsste. Denkt man den Besuch im Hotel(-Gefängnis) Metropol mit, stellt sich das beklemmende Gefühl, dass hier etwas Symptomatisches verhandelt wird, auch so ein. Da passte sogar die Pointe, dass der Regisseur nur als Bild auf einem Laptop beim Schlussapplaus dabei sein konnte, weil er in die Genesungsquarantäne verbannt war. Aber am Premierenabend ist der Regisseur ja eh nur Beiwerk und der Katalysator für die Zustimmung oder Ablehnung seiner Arbeit durch das Publikum.
Dringend empfohlen: Bitte Bulgakow lesen!
In Köln waren die Zuschauer nach knappen vier Stunden zum fairen Respekt für eine gewaltige Anstrengung aller Beigelegten bereit und nicht auf Kontroverse aus. Es mag auch daran gelegen haben, dass es Schwarz bei der Übersetzung der Vorlage in eine eigene Bühnensprache nicht um Aufklärung von Verwirrendem, sondern eher um eine weitere Stufe von Verklärung der ohnehin schon surreal mäandernden Szenenfolge in eine ebenso surreale Entsprechung ging. Um in Köln nicht den Faden zu verlieren, war die Kenntnis des Romans eine Grundvoraussetzung. Aber selbst die reichte in den seltensten Fällen wirklich aus.
Handlungsstränge spazieren durch die Zeiten
Die Handlungsstränge, die Bulgakow auf meisterhafte Weise miteinander verknüpft, sind hier nur schemenhaft zu erahnen. Es ist die Geschichte eines Meister genannten Schriftstellers in Moskau, der mit und um seinen Roman ringt und dabei in der Psychiatrie landet. Nikolay Borchev macht das in der Doppelrolle als langhaariger Meister und Jeschua (sprich Jesus) mit einnehmender Sympathie und einer gänzlich unaufdringlichen Bühnenpräsenz. Weiter geht es um die Geschichte dieses Romans, der aus der Sicht des römischen Prokurators Pontius Pilatus von dessen Begegnung mit Jeschua berichtet. Oliver Zwarg verkörpert dabei den Prokurator und zugleich den Arzt, dem der Meister in die Hände fällt. Was – so man es mitbekommt – als untergründige Verbindung zwischen den Geschichten durchaus Sinn macht. Vor allem aber geht es darum, wie der Teufel hier mit- und dabei zugleich Moskau aufmischt. Bjarni Thor Kristinsson ist dieser Voland und Schwarze Magier. Er war seinerzeit Augenzeuge in Jerusalem; ist jetzt der beargwöhnte Ausländer im Moskau der Dreißigerjahre; hat einen großen Auftritt als Zauberer, der im Varieté Geldscheine regnen lässt, und lädt zu einer Ballnacht ein paar Schritte jenseits der Wirklichkeit.
Ballnacht als Kopfkino
Da das schon im Libretto, das sich der Komponist selbst eingerichtet hat, verwirrender ist als im Roman selbst, bedarf es der Restrukturierung durch eine ordnende Regie. Für einen solchen Zugriff bieten sich mit der Szene im Varieté, der Ballnacht oder bei den Auftritten des Prokurators auch im Libretto Steilvorlagen. Bei der Ballnacht schaltet Schwarz allerdings völlig auf Kopfkino um, verlegt den großen Ball, zu dem der Teufel Margarita (mit Furor: Adriana Bastidas-Gamboa) als Ballkönigin lädt, in die Phantasie der Zuschauer, überlässt sie also voll und ganz André de Ridder und dem Gürzenichorchester, die ihre Chance auch weidlich nutzen. Man hört sie nicht nur, sondern sieht sie durch die Platzierung rechts neben der Spielstätte auch in voller Stärke und Schönheit.
Wie aus den mittelmäßigen Schriftstellern bei Bulgakov eine Riege von Genies der Bildenden Kunst werden
Andererseits lassen der Regisseur und besonders Kostümbildner Andy Besuch, der sich schon mal mit einer Schauspielversion des Stückes in Stuttgart auseinander gesetzt hat, die Zügel der Phantasie schießen. Was ihm dabei gelingt, bleibt in Erinnerung: Pontius Pilatus mit einem Mantel, der mit den Farbrastern von Gerhard Richters Kölner Domfenstern spielt. Oder die sinnliche Üppigkeit von Kleid, in der Margarita steckt. Der Clou sind aber die Künstlermasken, die aus den mittelmäßigen Schriftstellern bei Bulgakov eine Riege von Genies der Bildenden Kunst machen. Mit der Pracht kunstvoller Ballon-Köpfe, samt Markenzeichen: Es marschieren auf: Joseph Beuys (mit Hut), Van Gogh (mit Messer für’s Ohr), Dalì (mit seiner zerfließenden Armbanduhr), Dürer (mit Stoffhäschen und lockiger Mähne), Picasso (als Selbstporträt der Marke Typisch), Andy Warhol (blond und mit Konservenbüchse) und Jonathan Meese (als Rätsel für die Pause, weil ohne Trainingsjacke). Das ist nicht wirklich subversiv oder erhellend, aber purer Augenschmaus.
Wie man mit der rudimentären Technik im Staatenhaus Theaterzauber macht
Dem schwarzen Magier freilich, diesem Ausländer und Zeitzeugen Voland, verweigert die Regie die menschliche Gestalt. Er bleibt unter einem amöbig unförmigen Schwarz verborgen. Auch seinem teuflischen Gefolge geht es nicht viel besser. Im Kontext mit der Stimmung der Musik, aber nur in Rufweite zu Handlung des Stückes faszinierte auch das, was Andrea Cozzi auf die (wie man hörte nicht immer) reibungslos funktionierende Drehscheibe stellte. Vor eine mit dutzenden Scheinwerfern bestückten Wand, die Schlagworte formulieren, sich aber auch teilen kann, um Fassadenteile hervorzuzaubern, die sich auf wundersame Weise zu Außen- und Innenräumen fügen und wieder im Nichts verschwinden. So wie die zwei stilisierten Domtürme. Das muss man mit so einer rudimentären Technik wie im Staatenhaus erstmal hinbekommen.
Das Gürzenich-Orchester macht aus der Provisoriumsnot eine Klangtugend
Hier ist die Musik allerdings auch optisch gleichberechtigt, da das Gürzenich-Orchester neben der Spielfläche voll einsehbar ist. Ergänzt durch die Tonbandzuspielungen (wegen der technischen Entwicklung seit deren Entstehung eine Herausforderung) machen Dirigent, Orchester und die Technik im Staatenhaus aus der Provisoriumsnot eine Klangtugend. Ein Universum, in das man eintaucht, um Teile einer Geschichte aufzuschnappen, die (zu) oft in einem verrätselten Bilderstrom zu versinken droht. Dabei ist Bulgakows Geschichte doch so beklemmend aktuell.
Oper Köln
Höller: Der Meister und Margarita
André de Ridder (Leitung), Valentin Schwarz (Regie), Andrea Cozzi (Bühne), Andy Besuch (Kostüme), Andreas Grüter (Licht), Georg Kehren (Dramaturgie), Nikolay Borchev, Adriana Bastidas-Gamboa, Bjarni Thor Kristinsson, Matthias Hoffmann, John Heuzenroeder, Daila Schaechter, Hilke Kluth, Oliver Zwarg, Martin Koch, Lucas Singer, Gürzenich-Orchester Köln