Beim Operettenworkshop des Dirigentenforums des Deutschen Musikrats geht es um das so leicht klingende Schwere, was man als Dirigent mit großer Sinfonik oder durchkomponierter Oper nicht lernen kann: Den sekundenschnellen und dramatisch pulsierenden Wechsel von Wort und Gesang für die ideale musikdramatische Feinkoordination. Operettenworkshop-Teilnehmer waren internationale Durchstarter wie Oksana Lyniv (2008, heute Chefdirigentin der Grazer Philharmoniker), Daniel Huppert (2010, heute Chefdirigent der Bergischen Symphoniker und der Mecklenburgischen Staatskapelle) und Chin-Chao Lin (2014, heute Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Regensburg).
Operetten-Perlen am Wegesrand
Zum 17. Mal arbeiteten drei hochbegabte Anfänger mit dem Orchester der auf Operette und Musical spezialisierten Musikalischen Komödie Leipzig und lernten von deren Ensemble. Für die Spielzeit in der Ausweichspielstätte Westbad sollte das Repertoire der Musikalischen Komödie einen möglichst maritimen Anspruch erhalten. Deshalb kam Stefan Klingele, der immer auf der Suche nach den Operetten-Perlen am Wegesrand ist und erst im Herbst einen Themennachmittag über Operette und Musical der DDR veranstaltet hatte, auf Sigmund Romberg (1887-1951).
Der jüdische Ungar studierte bei Richard Heuberger, dem Komponisten des „Opernball“, in Wien und erlebte bis 1909 und seiner Auswanderung in die Vereinigten Staaten das deren Protagonisten damals unbewusste Hineingleiten vom Goldenen in das Silberne Operettenzeitalter. In Deutschland rutschte Rombergs aufgrund des Serienerfolgs seiner bei den Heidelberger Schlossfestspielen abwechselnd in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung gespielten Operette „The Student Prince“ nie ganz in jene Vergessenheit, welche die kurze Blütezeit der Broadway-Operette nach Wiener Vorbild mit voller Wucht treffen sollte: Romberg bearbeitete in New York „Wie einst im Mai“ (Maytime) und „Dreimäderlhaus“ (Blossom Time). Dort war er in den Zwanziger Jahren der einzige Bühnenkomponist, welcher in direkte Berührung mit den Wiener Vätern der amerikanischen Operette gekommen war.
„The New Moon“ (Neumond) brachte es nach der Uraufführung (16. August 1927 am Shubert Theatre, nach anderer Quelle am 19. September 1928 am Imperial Theatre in New York) auf etwa 500 Vorstellungen, die Verfilmung mit Grace Moore und Lawrence Tibbett folgte 1931. Das Textbuch von Oscar Hammerstein II, Frank Mandel und Laurence Schwab wurde für die deutsche Erstaufführung in der Musikalischen Komödie von Hauke Jensen übersetzt. Chefregisseur Cusch Jung führte durch die konzertante Einrichtung und gab seine Stimme auch dem Detektiv Vicomte Ribaud, der sich auf die Spur des mutmaßlichen Attentäters Robert Mission heftet.
So klingt Operette in New York
Streicherwellen, eine fanfarenartige Einleitung der kompletten Bläsergruppe, dann eine breite Melodie! Unter ähnlichen Klangkulissen begab sich Errol Flynn als Freibeuter wenige Jahre nach der Uraufführung in Zelluloid auf hohe See. Deshalb wirkt die Ouvertüre zu „The New Moon“ heute so vertraut. Aber sie entstand früher – während der Übergangsperiode vom Stumm- zum Tonfilm. Darum bestätigt diese Musik nicht nur den Traditionsbezug Rombergs, sondern auch dessen Zukunftsfähigkeit. Zumindest in den Jahren bis 1930: In später entstandenen Screwball-Comedies füllten solche Musiken die Pausen zwischen Pointen-Ketten und Rededuellen.
Viele Melodien Rombergs schweben reizvoll zwischen echter Lyrik, selbstreferentieller Ironie und einer dramaturgischen Verspieltheit, die bis „Oklahoma!“, „Anything Goes“ und „Candide“ das Musiktheater und den Musikfilm Amerikas beflügelte. Zugleich besitzt Romberg mit Variantenreichtum, Schmelz und musikalischer Weltläufigkeit eine Souveränität wie Eduard Künneke oder Paul Abraham. Man befindet sich stilistisch also mitten im Atlantik zwischen Alter und Neuer Welt. Walzer, Tangos, Paso Dobles und Soli mit einer Zartheit, wie sie Rombergs Komponistenkollegen nur selten gelang. Romanzen-König des Abends war Julian Freibott als von den Frauen gebeutelter Philippe reihen sich überraschend.
Was für eine Story!
Die vielgestaltigen Nummernkomplexe nutzen Mathias Drechsler und der Chor der Musikalischen Komödie bravourös: Denn die vierzehn Chordamen leihen ihre Stimmen nicht nur den Zofen einer Fabrikbesitzer-Tochter, sondern auch hundert weiteren Frauen. Diese sollen per Schiff nach Martinique, um dort mit einer Hundertschaft schuftender Männer verheiratet zu werden. Was für eine Story! Der den Idealen der Französischen Revolution zugeneigte Robert Mission verliebt sich unter falscher Identität in die steinreiche Marianne Beaunoir und gewinnt mit einer variantenreich unterbrochenen Liebeserklärung ihr Herz. Synchron zum Niedergang des europäischen Hochadels inthronisiert sich der amerikanische Geldadel, am Ende weht die Trikolore anstatt der Flagge mit der Bourbonen-Lilie.
Jungmädchen-Träume haben in Amerika andere Ziele als in Europa: Während die von Operettendiven verkörperten Figuren hier nach Liebe oder Glück jagen, hat Marianne handfestes Interesse an der realen Piraterie. Inzwischen manövriert sich Roberts Kumpel Alexander (Peter Kubik mit Herzensbrecher-Tönen) durch Konflikte mit seiner neuen Flamme Julie (Anna Evans) und der beim Frauentransport wiedergefundenen Angetrauten Clotilde (Angela Mehling). So richtig frivol, verrucht oder abgründig werden allerdings weder Rombergs Musik noch der Text. Aber für alle Spielarten von Sympathie, Flirt und das stille Leid von Misanthropen fand Romberg ein mannigfaltiges, melodienseliges Ausdrucksspektrum. Christian Geltingers Zwischentexte und die Übersetzung von Hauke Jensen treffen diese unsentimentale Leichtigkeit passgenau.
Zäsuren, Selbstironie, emotionaler Kitt, Schwelgen
Unterschiede der Annäherung lassen sich bei der nach den Kriterien von Proportion, musikalischer Gewichtigkeit und Publikumswirksamkeit der etwa 30 Musiknummern unter den drei Jung-Dirigenten, die sich unter Anleitung von Gerrit Prießnitz vom 7. bis zum 10. Januar den Herausforderungen stellten, kaum ausmachen. Dieses Werk ist durch die vielen melodramatischen Untermalungen der Dialoge ein sensibles Gebilde. Dabei folgte Romberg keinem Muster, sondern wählte immer wieder neue Verfahren: Zäsuren, Selbstironie, emotionaler Kitt, Schwelgen oder Stopper ereignen sich, manchmal überraschend irregulär zwischen den Strophen und manchmal sogar mitten in melodischen Phrasen.
Minimale Ton-Verstärkung hilft den Sängern über das im Westbad auch im Piano äußerst dicht klingende Orchester. Workshop-Arbeit aus einem Guss. Denn Romberg lieferte keine aufrauschenden Holzhammer-Wiederholungen und setzte dafür lieber über das ganze Werk verteilte Reminiszenzen. Deshalb wurde vor allem interessant, wie die jungen Dirigenten mit unterschiedlichen Zeichengebungen zu analogen Resultaten kamen. Gabriel Venzago setzte kleine rhythmische Akzente und vertraute beim beabsichtigten Aufblühen den Fachkenntnissen seiner Musiker. Christoph Schäfer überführte die Phrasen mit seinen Gesten in einen übergeordneten Fluss und erzeugte damit bemerkenswerte Konzentration für instrumentale Einzelereignisse. Johannes Marsovszky kultivierte eine ideale Begleitung mit gekonnter, weil nicht aufdringlich ausgestellter Sängerfreundlichkeit. Andreas Rainer (Captain), Michael Raschle (Beaunoir) und Milko Milev (Besace) vermieden Grobschlächtiges.
Hilfe von Dirigenten-Seite war allerdings für das Hauptpaar dringend nötig: Bei der Partie von Robert Mission kündigt sich mit vertrackten Schwierigkeiten schon der Protagonisten-Wechsel vom lyrischen Operetten-Tenor zum baritonalen Broadway-Darsteller an. Eine souveräne Leistung von Jeffery Krueger, weil sich die zentrale Lage der umfangreichen Partie des Robert Mission immer weiter nach oben schraubt und Krueger das ohne Materialtrübungen perfekt bewältigt. Deshalb braucht er weitaus mehr Sopran-Power neben sich als ein naives Silberstimmchen. Nora Lentner schenkt ihm als Rombergs Dollarprinzessin deshalb absolut nichts. Sie singt und spielt eine Frau von strahlender Herzlichkeit, vor der jede Meuterei im Keim ersticken muss. Mit einer solchen Operetten-Nixe als Galionsfigur schafft es die „Neumond“ problemlos nach Martinique – und hoffentlich nach Europa zu einer szenischen Neuproduktion.
Oper Leipzig
Abschlusskonzert Operettenworkshop: Neumond (The New Moon)
Gerrit Prießnitz (Musikalische Leitung), Stefan Klingele (Künstlerische Leitung & Organisation), Mathias Drechsler (Chor), Johannes Marsovszky, Gabriel Venzago, Christoph Schäfer (Teilnehmer des Dirigentenkurses), Nora Lentner (Marianne Beaunoir), Anna Evans (Julie), Angela Mehling (Clotilde Lombaste), Jeffery Krueger (Robert Mission), Julian Freibott (Philippe), Peter Kubik (Alexander), Andreas Rainer (Captain George Duval), Milko Milev (Besace), Michael Raschle (Monsieur Beaunoir), Cusch Jung (Erzähler & Vicomte Ribaud), Chor der Musikalischen Komödie, Orchester der Musikalischen Komödie
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