Jetzt muss nur noch Katharina Wagner ihren coronabedingt verzögerten „Lohengrin“ nachreichen. Diese Koproduktion mit der Oper in Barcelona kommt nun zuerst in Leipzig heraus. Dann hat Opernchef Ulf Schirmer alles beisammen, um mit seinem „Wagner 22“-Event alle (also den kompletten Bayreuther Stückekanon und die drei Frühwerke) Opern Richard Wagners in einem Marathon zu präsentieren. Zu diesem in Leipzig geborenen Großkomponisten passt ein derartig einmaliger und auch ein wenig größenwahnsinniger Kraftakt allemal. Und Ulf Schirmer krönt so seine Intendantenjahre spektakulär. Wie man die internationale Wagnergemeinde so kennt, wird das funktionieren!
1. Aufzug: reinstes Bilderbuchmittelalter
Nun also „Die Meistersinger von Nürnberg“. Die Handwerkeroper, in der die Deutsche Kunst und das Deutsche an sich am Ende so explizit (von Wagner selbst und von der Rezeptionsgeschichte) zum Thema gemacht werden, dass dem heute kein Regisseur mehr ausweichen kann. Selbst wenn man das „Was-deutsch-und-echt,-wüßt`-keiner-mehr“-Pathos in Hans Sachsens Schlussansprache einfach so vom Blatt spielen lassen würde, wäre das ja ein Statement. Per se reaktionär ist es nicht. In Barrie Koskys Bayreuther Inszenierung hält Sachs seine Rede allein, direkt ans Publikum. In Leipzig schaut jetzt der Regisseur David Pountney, gleichsam als Brite, von oben auf die ererbte Nürnberg-Idylle.
Von den Stufen eines Amphitheater-Halbrunds (Bühne: Laslie Travers) blicken Zeitgenossen der Zuschauer im Saal auf ein hübsches Holzmodell-Nürnberg. Mannshohe Kirchtürme, Fachwerk – das reinste Bilderbuchmittelalter. Viele der Nürnberger auf der Bühne haben weiße Overalls über ihren historischen Kostümen, so als wären sie von der Spurensicherung. Anders die Meister, die hat Marie Jeanne Lecca so herausgeputzt, als käme sie vom Schneider Albrecht Dürers. Ein Einstieg nach dem Motto „Künstler der Welt, schaut auf diese Stadt“ sozusagen. Oder das Happening in einer Kunstakademie, in die Stolzing hineinschneit, um sich mit Eva zu verabreden. Aufpassen, wo sie hintreten, müssen sie bei soviel Stufensteigen und Gassenenge à la Modelleisenbahn jedenfalls. Dennoch – der erste Akt funktioniert in seiner offenen, ans Publikum gerichteten Art auch in dieser Umgebung vom ersten Ton an.
2. Aufzug: Perspektivwechsel mit Gegenwartsbezug
Im zweiten Aufzug sorgen eine angedeutete Riesentür und -butzenscheibenfenster rechts und links für einen Perspektivenwechsel. Wenn sich die Prügelszene anbahnt, entschwinden die beiden Riesenteile gen Schnürboden, und auf den Stufen des Halbrunds gehen eine in Schwarz und in Rot stilisiert kostümierte Gesellschaft aufeinander los. Ein paar irritierte Bürger in Unterwäsche geraten dazwischen und wissen nicht, wie ihnen mitten in diesem plötzlichen Gewaltausbruch geschieht. Unwillkürlich fällt einem da das Polizeiaufgebot in der Leipziger Innenstadt ein, das am Premierenabend ein gerade erteiltes Demonstrationsverbot absicherte. (Das hatte nichts mit der Oper zu tun, kam aber dem ungestörten Besuch zu gute). Nach dieser stilisierten Überhöhung der Prügelei war vorhersehbar, dass zum Ruf des (kriegsinvaliden) Nachtwächters allesamt zu Boden gehen und sich die Projektion eines Nürnbergs in Trümmern über die Szene legt.
3. Aufzug: Nürnberg-Trümmer
Im Dritten Aufzug dann finden sich auf dem Dach einer ziemlich unverblümt tümelnden fränkischen Schusterstube die Nürnbergtrümmer wieder. Innen: Bauernstubenfolklore pur, darüber: (metaphorisch) die Last des Vergangenen im Laubsägeformat. Hier sitzen Sachs und Stolzing beisammen für die Notizen zum Siegerlied, das Beckmesser zu seinem eigenen Verhängnis stibitzt. Hier bringt Eva Sachs noch einmal für Momente auf den Gedanken, selbst um sie zu werben, hier wird David so zum Gesellen geohrfeigt, dass er vom Hocker fliegt, und hier wird das Quintett zur Taufe des Siegerliedes (etwas zu forsch) zelebriert.
Pountneys Pointe
Schließlich verschwindet alles auf offener Szene in der Versenkung. Noch herumliegende Trümmer werden beseitigt und ein Modell des Berliner Reichstages als Podest für den Sängerwettstreit aufgebaut. Wir sind also bei uns in der Gegenwart, soll dass wohl heißen. Zum Aufmarsch der Zünfte ist das Fahnenschwenken durch eine angedeutete Tanzshow ersetzt. Für den eh schon durchgängig sympathischen Hans Sachs spricht, dass ihn die Ehrung mit seinem „Wach auf“-Chor wirklich überrascht. Nach Beckmessers Blamage erscheint Stolzing ganz in Weiß. Singt und siegt. Auf der Bühne und im Saal. Als er die angebotene Meisterehre ausschlägt, hat vor allem Hans Sachs nicht allzu viel Mühe, um Walthers (kleine) Rebellion schnell in dessen Wechsel auf die Seite der Etablierten zu verwandeln. Pountneys Pointe besteht darin, dass sich Eva und mit ihr nahezu alle Frauen von diesem Triumph der bestehenden Ordnung abwenden. Das Problem Beckmesser, den Pountney über weite Strecken in die Nähe eines (jüdischen?) Außenseiters rückt, hatte sich da von selbst erledigt. Er war nach seinem missglückten Auftritt geflohen, ward nicht mehr gesehen und kehrt auch nicht zurück.
Keine Wagnersänger? Von wegen!
Pountney liefert zwar das hierzulande unumgängliche Mindestmaß an politischer Verortung, bleibt aber deutlich hinter der Einbindung der Vorgängerinszenierung von Jochen Biganzoli in die deutsche Nachkriegsgeschichte zurück. Die neuen „Meistersinger“ sind nicht völlig apolitisch, aber (ver-)stören dürften sie mit dem eingebauten historisch kritischen Minimum auch niemanden. Dass diese Oper neben allem Politischen auch Wagners menschlichstes und komödiantischstes Stück ist, das wird allemal deutlich. Geradezu mustergültig war die sonst weit und breit kaum anzutreffende Wortverständlichkeit. Selbst Ulf Schirmers zupackend frische, manchmal auch komödiantisch triumphierende Art, das Gewandhausorchester zu einem flotten lebensprallen Wagnerklang zu animieren, überdeckte sie nie. Die Befürchtung, die man noch haben konnte, als einem bei geschlossenem Vorhang die Ouvertüre regelrecht um die Ohren flog, war beim ersten gesungenen Ton vergessen.
Selten kann man Eva und Magdalene so aufs Wort folgen wie bei Elisabet Strid und Kathrin Göring. Matthias Stier überraschte regelrecht als grandioser belcantistischer David. Magnus Vigilius faszinierte durch seine souveräne Strahlkraft und die lockere Spielweise eines auch optisch idealtypischen Walther von Stolzing. Der Hans Sachs von James Rutherford verbindet Eloquenz und souveräne Noblesse ohne Altherrenattitüde, mit der Sebastian Pilgrim als Veit Pogner wiederum bewusst spielt. Mathias Hausmann gestaltete (einer Indisposition wegen) seinen agilen Beckmesser als eine perfekte Playbackshow, zu der Ralf Lukas von der Seite den Gesang beisteuerte. Auch sonst wird tip top gesungen und gespielt. Auch von den Chören, die Thomas Eitler-de Lint einstudiert hat. Keine Wangersänger? Von wegen. In Leipzig sind sie. Ungeteilter Jubel.
Oper Leipzig
Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg
Ulf Schirmer (Leitung), David Pountney (Regie), Denni Sayers (Choreografie), Leslie Travers (Bühne), Marie Jeanne Lecca (Kostüme), Fabrice Kebour (Licht), Thomas Eitler-de Lint (Chor), Elisabet Strid, Kathrin Göring, James Rutherford, Sebastian Pilgrim, Matthias Stier, Magnus Vigilius, Mathias Hausmann, Chor & Zusatzchor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester