Auf jeden Fall beim „Lohengrin“ wird die versammelte, auf den kompletten Wagner erpichte Gemeinde – vermutlich aus fast allen Teilen der Welt – auch den Eisernen Vorhang der Leipziger Oper bewundern können. Da gehört er nämlich dazu. Zumindest gleich zu Beginn. Und er ist so schmuck wie das ganze Haus. Wirkt wie eine einladende Verbindung zwischen Bühne und Saal und nicht wie eine rein technische Abgrenzung zwischen beiden. Wenn sich am 20. Juni für drei Wochen Unendlichkeit in Leipzig der Vorhang für wirklich alle Wagneropern, von den „Feen“ bis zum „Parsifal“, hebt, dann wird das Haus am Augustusplatz auf jeden Fall nicht nur mit den drei frühen, aus Bayreuth verbannten Werken des Meisters, sondern auch mit seiner menschenfreundlichen Bequemlichkeit für die Zuschauer dem Grünen Hügel per se überlegen sein. Das Haus ist zwar kein avantgardistisches Architekturjuwel, aber eins der schönsten und menschen-, sprich zuschauerfreundlichsten Erbstücke der DDR ist es allemal. Zumindest rein körperlich hat der Wagnerianer hier nichts zu befürchten.
Der Wagnercoup des gesamten Werkkosmos kann kommen.
Ulf Schirmer hat während seiner unaufgeregt absolvierten Intendantenjahre darauf hingearbeitet, zum Abschluss diesen Wagnercoup zu landen, der unter dem Titel „Wagner 22“ zu einer Reise durch das komplette Bühnenwerk des in Leipzig geborenen Großkomponisten einlädt. Man kann nur hoffen, dass nicht irgendwas grundsätzlich dazwischen kommt und für die üblichen Wechselfälle der Sängergesundheit ein findiges Besetzungsbüro eine Schattencrew in petto hat.
Prominenter Einspringer in einem Spitzenensemble
So wie jetzt bei der Premiere des bislang einzig noch fehlenden „Lohengrin“. Da musste der König vertreten werden, was mit Günther Groissböck luxuriös geschah. Sein König Heinrich ist zwar ein Kriegsherr pur, mit einer machohaften Markigkeit, über die man bei den Passagen zum Deutschen Schwert und dem Feind, der seinem Reich aus dem Osten droht, normalerweise auch leichte Zweifel hätte bekommen können. Aber hier passte es. Die Szene war eh nicht auf Distanz zum Stück aus, und die Zeiten, wie sie sich seit Ende Februar gewendet haben, spielten dieser Version eindeutig in die Hände. Aber nicht nur dieser König integrierte den gängigen Bayreuther Vokalmaßstab mit Nam und Klang in diese Produktion. Der unter herabrieselnden Schwanenfedern und im Strickpullover mit einem Schwan in der Glaskugel herbeischlendernde Retter Elsas in der Not, Klaus Florian Vogt, brachte sich in Hochform ein. Man mag seine Stimme mögen oder auch für ausdrucksbegrenzt halten – an seinem Lohengrin gibt es nichts zu deuteln. Das sitzt und strahlt und begeistert. Elsa und den Rest auf der Bühne, weil es so vorgeschrieben ist, und im Saal, weil er einem keine andere Wahl lässt. Dazu kommt ein Protagonistenensemble, das wacker mithält. Gabriela Scherer ist eine etwas traumtänzerische Elsa. Nicht ganz von dieser Welt, aber mit einer sehr schönen Stimme, die ohne Druck aufzublühen vermag und Gefühl verbreitet. Das dunkle Paar muss das Gegenteil bewältigen und macht das erstklassig. Kathrin Göring ist als intrigante Strippenzieherin im blauen Hosenanzug und mit allen Mitteln um die Macht kämpfende Ortrud von prägender Präsenz, auch wenn sie nicht singt. Wenn sie das aber macht, dann trifft auch das mit dosierter Durchschlagskraft und eleganter Präzision genau ins Schwarze.
Ein blinder Telramund
Simon Neal ist ein kämpferischer, nur scheinbar polternder Telramund – auch er von einer beispielhaften Präzision und Präsenz! Dass die Regie ihn hier als einen Blinden auftreten lässt, macht seine Abhängigkeit von Ortrud offenkundig, erlaubt ihr, in Gesten ihre Verachtung zu demonstrieren, und Lohengrin, sich beim Duell im Gottesgericht fair zu verhalten, indem er nicht wirklich gegen den Unterlegenen antritt. (Man versteht ihn hier tatsächlich mal, wenn er auf seine gute Tat verweist, die man ja gesehen habe. Hier haben wir sie gesehen.)
Der Heerufer als der Prototyp eines Opportunisten
Dass der Heerrufer erst jetzt folgt, liegt nicht an seiner vokalen Klasse, sondern an seiner Position in dieser Inszenierung. Mathias Hausmann ist der Prototyp eines Opportunisten, der sein Mäntelchen in den Wind hängt und seine Dienste da anbietet, wo er die wahre Macht verortet. Formal ist das zunächst beim König. Er ist nicht nur dessen Regierungssprecher, sondern auch so etwas wie sein Sicherheitsberater. Als er aber den Machtwillen Ortruds spürt, lässt er sich von deren durchaus auch körperlich übergriffigen Avancen so sehr umgarnen, dass man eine Zeitlang vermutet, dass er am Ende an ihrer Seite triumphieren würde. Macht er auch, aber nicht an der Seite von Ortrud, sondern an der des neuen Herren. Weil Lohengrin den Brabantern nicht wie meistens einen kindlichen Gottfried, sondern einen entschlossen dreinblickenden jungen Mann präsentiert, verwirft der Heerrufer seine kurze Chance auf die Macht und schießt nicht wie von Ortrud ermuntert auf ihn, sondern in den letzten Sekunden bevor sich der Vorhang schließt, auf seine bisherige geheime Verbündete Ortrud. Dass der König einfach so geht, wirkt da ein wenig freihändig skizziert.
Die Regie ist viel mehr als ein Ersatz für Katharina Wagner
Trotzdem ist das Ganze bei Regisseur Patrick Bialdyga und seinem Team (Norman Heinrich, Bühne; Roy Böser und Jennifer Knothe, Kostüme) mehr geworden als die bloße Notfallvariante, die wegen der Entstehungsgeschichte der Inszenierung zu befürchten war. Eigentlich sollte nämlich Katharina Wagner diesen „Lohengrin“ beisteuern. Der musste – lockdownbedingt – in Barcelona schon (fast fertig) verpackt werden, um dann in Leipzig seine Premiere zu erleben. Ulf Schirmer vergab sich weder in der offiziellen Stellungnahme seines Hauses, noch in den etwas deutlicheren Anmerkungen aus Bayreuth etwas, und übernahm die Verantwortung dafür, dass Leipzig die technischen Anpassungen des Bühnenbildes nicht bewältigt hat. Immerhin gelang es dem eh auf Wagner eingestimmten Haus, eine eigene Version zustande zu bringen. Und mit dem, was gerade in der Berliner Staatsoper zu erleben ist, kann sich dieses Inszenierung allemal messen.
Ein Wagner-Kammerspiel
Dass das Regieteam auf eine pandemiebedingte chorlose Rumpfversion zurückgreifen konnte, war an der Art zu erkennen, wie der von Thomas Eitler-de Lint sorgfältig einstudierte Chor jetzt eingefügt wurde. Auf einem zweistöckigen Gerüst, das als Mauer verkleidet den Bühnenraum mit langer, putinesker Tafel im Zentrum, im Hintergrund begrenzte. Manchmal waren die Choristen nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen. Ins Agieren der Protagonisten waren sie nicht einbezogen, was aber in diesem Falle durchaus akzeptabel ist, da die Massen eh vor allem bestätigen, was die Protagonisten von sich geben. Zumindest, wenn sie nicht wie bei Konwitschny als Schüler oder wie bei Neuenfels als Ratten eine eigenständige reflektierende oder ästhetische Rolle spielen. In dem in Leipzig eher auf Kammerspiel angelegten Agieren gelingt es den Protagonisten jedenfalls, Rollenprofile zu entwickeln, die sich einprägen. Realpolitiker hier, romantische Träumer und Hoffnungsträger da. Dazwischen der Opportunismus des einzelnen und der der Masse, die das Spiel um die Macht in die eine oder andere Richtung gehen lassen.
Orchesterklang mit Charisma
Im Graben steuert Christoph Gedschold mit dem Gewandhausorchester auf sicherem Wagnerkurs – überrascht mit der einen oder anderen Zusatztransparenz bei den Instrumentengruppen, fasziniert mit den betörenden lichter Waffen Scheine, oder dem, was vom Gral herüber in eine bedrängte Welt scheint. Der Orchesterklang entfaltet sein Charisma und ist stets mit dem fabelhaften Gesang im Einklang.
Oper Leipzig
Wagner: Lohengrin
Christoph Gedschold (Leitung), Patrick Bialdyga (Regie), Norman Heinrich (Bühne), Roy Böser & Jennifer Knothe (Kostüme), Stefan Bolliger (Licht), Bernd E. Gengelbach (Video), Thomas Eitler-de Lint (Chor), Chor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig