In Leipzig sortiert der neue Intendant Tobias Wolff das Opernrepertoire neu. Nach den Wagner-Marathon, mit dem sein Vorgänger durchs Ziel gegangen war und damit sogar den Querschlägen der Pandemie einigermaßen geschickt und erfolgreich ausgewichen war, kommen Lortzing und Verdi gerade recht. Der Deutsche gehört eh nach Leipzig und Verdi sowieso allen.
Kleine Rollen mal ganz groß – und ein Abgesandter der Opernhölle
Dem Gewandhausorchester unter der Leitung von Christoph Gedschold meint man die Freude über den Trip nach Italien anzuhören, der ja eigentlich einer bis nach Zypern ist, wo Verdi seinen Otello in der Libretto-Version der Shakespeare-Vorlage von Arrigo Boito an Land gehen lässt. Hier krachen die meteorologischen und die seelischen Unwetter nur so drauf los — aber auch für das Kammerspiel der Verzweiflung Desdemonas und die beredte Energie der Intrigen Jagos findet Gedschold den rechten Ton, die Stimmen des überzeugenden Ensembles behalten stets die Oberhand.
Thomas Eitler-de Lint hat die Chöre (zum Zusatzchor kommt noch der Kinderchor) präzise für seinen Part zwischen wogender Sturmchoreographie und aufmarschierter Formation einstudiert, die Chorleistung ist überwältigend. Sorgfalt waltet bei den kleinen Rollen. Ob nun Randall Jakobsh bei seinem späten würdevollen Auftritt als venezianischer Gesandter Ludovico oder Joan Vincent Hoppeals Bauernfigur in Jagos Intrigenschach, Montano, oder Alvaro Zambrano als Rodrigo: Sie drohen zwar optisch von der nahezu einheitlichen Kostümierung verschluckt zu werden, die Andrea Schmidt-Futterer inspiriert von japanischen Hosenrücken für Herren (Unisex-Hakamas, wie sie im Programmheft verrät) entworfen hat. Aber vokal stehen sie erkennbar ihren Mann. Matthias Stier muss die Beinkleider sogar fallen lassen, um als Cassio betrunken (gemacht) aus der Rolle zu fallen. Mit eleganter Würde verkörpert Ensembleneumitglied Ulrike Schneider Jagos Frau und Desdemona Freundin Emilia. Wobei das per se ein Widerspruch ist, den sie in ihrem widerständigen Habitus deutlich macht.
Mag sein, dass die Rumänin Julia Maria Dan nicht die lyrischste Desdemona ist, die man sich denken kann, aber ihre Piani vor allem am Ende sind atemberaubend sicher, mitreißend wird es, wenn sie ihrer Höhe freien Lauf lässt. Der spanische Tenor Xavier Moreno wartet mit einer standfesten, wenn auch etwas engen Höhe auf. Die vokale Sensation dieses Abends freilich ist der der Weißrusse Vladislav Sulimsky als Jago. Ein Gesandter der Opernhölle, der die Bosheit dieses Finsterlings par excellence obendrein mit einem betörenden Timbre ausstattet, das er mühelos als Mittel der Verführung nutzt. Allein seinetwegen lohnte schon der Besuch dieser Inszenierung. Ob die Inszenierung dafür genügend Gründe liefert, wird da schon fast zweitrangig.
Die Regisseurin frönt ihrer Vorliebe für wehende Vorhänge – und lässt die ermordete Desdemona auferstehen
Wie so oft könnte diese „Otello“-Version auch „Jago“ heißen. Er ist der Strippenzieher und beherrscht auch im Habitus seiner Erscheinung den Raum, wenn er auf der Szene ist, was man von seinem eher betulich wirkenden General nicht sagen kann. Und damit ist auch schon ein Problem der Inszenierung benannt. Die behauptet nämlich etwas anderes. Die niederländische Regisseurin Monique Wagemakers hatte beim jüngsten Chemnitzer „Ring“ mit vier verschiedenen Regisseurinnen (wirklich mit kleinem i, um nicht weiblichen Regisseuren zu sagen) „Walküre“ verantwortet. So weit und wie dort, jede Waffe verschwinden zu lassen, geht sie hier nicht. Otello hat bei dem Mord an seiner Frau sogar zwei Dolche bei sich, lässt sie aber fallen und stirbt an einem Herzinfarkt statt an gebrochenem Herzen (eigentlich an zu wenig Verstand). Ihrer Vorliebe für wehende Vorhänge und nüchterne Raumandeutungen frönt sie (zusammen mit Bühnenbildner Dirk Becker) auch hier. Dass sie freilich – feministisch unterwegs – Desdemona ins Zentrum rücken will, bleibt mehr Behauptung.
Noch bevor der musikalische Sturm losbricht, rezitiert Anke Stoppa (die als Sprecherin der Desdemona vermerkt ist) Desdemonas kleine Ansprache an ihren mordlustigen Gatten („Nein, Othello, nein! Ich werde nicht schweigen.“) aus Christine Brückners „Wenn Du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen.“ Auch die diversen Videoprojektionen auf wehenden Tüchern zeigen immer wieder ihr attraktives Antlitz. Aber dann werden in dem abstrakten Nichtraum doch alle zu Figuren Jagos, die er lustvoll und mit Erfolg nach Belieben manipulieren kann. Und die allesamt nicht genügend Verstand und Menschenkenntnis haben, um ihm Widerstand zu leisten (mit Ausnahme seiner Frau vielleicht, aber die fängt halt zu spät damit an, ihre Einsichten in Handeln zu übersetzen). Am Ende schließt Wagemakers ihre dramaturgische Klammer zwar, wenn Desdemona wieder auf(er)steht und erhobenen Hauptes den Schauplatz verlässt, ohne ihren toten Mörder auch nur eines Blickes zu würdigen.
Was man wirklich gesehen hat, ist die Macht der falschen Wahrheiten einer Welt des naiven Treu und Glauben. Mitleid(en) war hier eh nicht vorgesehen, es stellt sich auch nicht ein. Und dass Otello als Mann, Mensch und Krieger vor allem an sich selbst scheitert, wusste man auch schon. Ganz gleich, ob er (wie neuerdings ja keinesfalls mehr) wie früher schwarz angemalt ist oder nicht. Dass Jago das dunkle Zentrum dieser Welt für sich beansprucht, wird immerhin klar. Schlimm genug.
Oper Leipzig
Verdi: Otello
Christoph Gedschold (Leitung), Monique Wagemakers (Regie), Dirk Becker (Bühne), Andrea Schmidt-Futterer (Kostüme), Philipp Ludwig Stangl (Video), Cor van den Brink (Licht), Xavier Moreno, Vladislav Sulimsky, Matthias Stier, Alvaro Zambrano, Randall Jakobsh, Joan Vincent Hoppe, Iulia Maria Dan, Ulrike Schneider, Chor der Oper Leipzig, Kinderchor der Oper Leipzig, Zusatzchor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester