Besser spät als nie: Ein Jahr vor seinem Abschied als Intendant der Oper Leipzig und dem Marathon mit allen Wagner-Opern zeigt Ulf Schirmer endlich seine in der Musikstadt bislang mit Wagner– und Strauss-Schleiern vermummten Vorzüge, für die er als Chefdirigent des Münchner Rundfunkorchesters international einen phänomenalen Ruf hatte: Bei der allerersten und von Hans Werner Henze gegründeten Münchner Biennale für Neues Musiktheater 1988 stand Schirmer am Pult zur Uraufführung von Gerd Kührs (Jahrgang 1952) Oper „Stallerhof“ nach Franz Xaver Kroetz, einem der nachhaltigsten Erfolge des jüngeren Musiktheaters, und dann wieder bei Kührs „Tod und Teufel“ nach Peter Turrini an der Oper Graz 1999.
So schließt sich mit dem von der Ernst von Siemens Musikstiftung geförderten Kompositionsauftrag und ersten Leipziger Opernuraufführung im großen Haus nach 21 Jahren ein Kreis, der vor 33 Jahren in München begann: Gerd Kührs vierte Oper „Paradiese“ auf den Text von Hans-Ulrich Treichel (Jahrgang 1952) erlebt mit insgesamt nur drei Vorstellungen en suite ihre Premiere – aufgrund der Hygienebestimmung vor halbvollen Haus. Das Publikum, darunter viele Angereiste aus Österreich und der in ganz Deutschland verstreuten Henze-Szene, reagierte mit warmem, bewegtem Applaus und vereinzelten Jubelrufen.
Sportiver Einfallsreichtum der Regie
Angesichts der erst von strikten Einschränkungen limitierten und dann von sprunghaften Änderungen begleiteten Probenzeit gelang am Augustusplatz eine satte Leistung mit dieser über zweistündigen und für eine neue Oper somit überdurchschnittlich langen Partitur: Das gilt auf gleicher Höhe für das Besetzungsaufgebot mit ausschließlich physischer Tonerzeugung und einem szenisch wie musikalisch umfangreichen Chorpart, der nach Präzisionsarbeit an den vertrackten Sprechpassagen und der machtvollen Mänadenhymne dank Thomas Eitler-du Lint so glänzte wie die Solisten in ihren anspruchsvollen Partien.
Die tschechische Regisseurin Barbora Horáková Joly – eigentlich hätte sie hier auch „Die Zauberflöte“ inszenieren sollen – griff auf ihre mehrwöchigen Ortserkundungen in Berlin zurück. Das war für diesen Werkkosmos zu wenig, obwohl sie für die Quickies in der Küche, Demonstrationen im Universitätshörsaal und duftige Phantastereien aus dem nächtlichen Westberlin von sportivem Einfallsreichtum strotzt. Nicht nur beim Kopulieren sind die Figuren immer in Bewegung, so als ob sie sich ihrer physischen Präsenz ständig versichern müssten. Schade ist das, weil Kühr einen für Stimmen und Inhalte geschmeidigen und psychologisch nachvollziehbaren Vokalsatz komponierte, dessen Ursprünge sich auf Henze und sogar das rezitativische Parlando von Alban Berg zurückführen lassen.
Sehen Sie, das war (West-)Berlin
Die ersten Suchen nach den irdischen Paradiesen unternahm Kühr seit 2005 mit seiner 2016 verstorbenen Ehefrau Petra Ernst – der Literaturwissenschaftlerin ist die Oper gewidmet. Als Schauplatz kam nur Berlin aus der Perspektive einer zugereisten Person in Frage, die ihrem Heimatort entflieht und in Berlin alle Möglichkeiten von Selbst- und Grenzerfahrungen sucht. Diesen realistischen Strukturball fing Hans-Ulrich Treichel auf und reicherte ihn mit eigenen biographischen Erfahrungen an. Die Oper wird zur Gleichung: Berlin ist die Welt minus Bielefeld minus Bruchsal minus Bausparvertrag.
Jeder Akt spielt in einer anderen Stadt- oder Traumszenerie, die immer mit Berlin als Hoffnungsinsel für Aussteiger und Aufsteiger zu tun hat. Albert stürzt aus dem miefigen Ost-Westfalen in die Studentenunruhen und zeigt sofort außerordentliches Engagement für die sexuelle Revolution. Mathias Hausmann gibt Albert über weite Teile des Abends als „topless guy talking about his sex life“. Er hat durch eine Überdosis Lachgas erotische Visionen von der Pfaueninsel, aber nicht vom Zoologischen Garten. Aida-Leonor Guardia illustriert das mit übergroßen Mohnblüten in LSD-Farben, einstürzenden Neubauten und die Ausstattung schielt – warum? – Richtung Revueoperette. Hörsaal und Probenbühne sind realistisch gehalten, die Einbauküche im DDR-Design ist gemalt.
Super Paradise an der Spree
Albert findet seine Erfüllung in Prenzlauer Berg bei der hemmungslos sinnlichen und dabei lebensklugen Anna. An einer Stelle sagt er: „Nach der Liebe ist immer vor der Liebe.“ Die von Treichel verordneten Lektionen an Erfahrungszuwachs hat er gut gelernt. Am Schluss spricht das gemessen an Alberts vorherigen Problembeziehungen ideale Paar über Annas Großmutter, die nach den Diesseits-Eruptionen durch Weimar, Hitler, DDR und Wiedervereinigung getrost auf ein Jenseits nach dem Tod verzichten könnte. Die Sprache des erfahrenen Librettisten Treichel („Das verratene Meer“ für Henze, „Oceane“ für Detlev Glanert) ist im Politischen, Emotionalen und Erotischen von prägnanter Klarheit.
Trotzdem steckt in Kührs melodischer und von starker Trennung der Instrumentengruppen geleiteter Komposition eine Hymne an die von der DDR umwogte Insel Westberlin in ihren goldenen Jahren zwischen Studentenunruhen und Wiedervereinigung. Die kompositorischen Mittel sind vielfältig: Die studentischen Sprechchöre rappen eine imposante Silben-Choreographie, einige Töne der Zahnmedizin-Studentin Friederike (Julia Sophie Wagner) imitieren die Geräusche ihres Bohrers, die dramatische Wortvirtuosin Marie (Christiane Döcker) bleibt im echten Leben tonal recht einsilbig, und die Erregungskurve der ostdeutschen Geschichtslehrerin Anna (Magdalena Hinterdobler) spiegelt sich in ihrer Vokallinie.
Die wäre die richtige Oper zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung gewesen
Die beiden Mittelakte – einer träumerisch, einer phantastisch – spielen auf Berliner Zeitgeschichten des späten 20. Jahrhunderts an. Einfacher läuft es mit den Intimbeziehungen in den Rahmenakten. Da merkt Albert zuerst, dass seine Gefühle die politisch legitimierte Promiskuität der von ihm begehrten Lise (Alina Adamski) nicht ohne weiteres verkraften und ihm im weitgehend unproblematischen Verhältnis mit Anna am wohlsten ist. Ein Doktorspielchen der maliziösen Art wird, wenn Albert an seine Überwältigung durch eine dominante Gespielin im weißen Kittel denkt, diese ihn aber nur als Übungsobjekt vor ihrer Approbation betrachtet.
Kühr verfügt für Orchester und Bühne über verschiedene Mittel zur sensitiven Steigerung und sprachlichen Deutlichkeit. Streicher, Hölzer oder Blech bleiben oft getrennt und kommen immer wieder in chromatischen Engführungen zusammen. Kühr stellt keine Fragen an die Episoden des Textbuchs, und keine an die Zuschauer. Albert ist mehr Kettenglied zwischen den Einzelakten als dynamischer Charakter. Im Nachhinein betrachtet wäre „Paradiese“ die richtige Oper zum 30. Jahrestag der Wiedervereinigung gewesen.
Oper Leipzig
Kühr: Paradiese (Uraufführung)
Kompositionsauftrag der Oper Leipzig, gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung
Ulf Schirmer (Leitung), Barbora Horáková Joly(Regie), Aida-Leonor Guardia (Bühne), Eva Butzkies (Kostüme), Stefan Bolliger (Licht), Thomas Eitler-de Lint (Choreinstudierung), Hella Bartnig & Christian Geltinger (Dramaturgie), Alina Adamski (Lise), Julia Sophie Wagner (Friederike), Christiane Döcker (Marie), Magdalena Hinterdobler (Anna), Mathias Hausmann (Albert),Gabriel Pereira (Sponti-Student & Hofmeister), Julian Dominique Clement (Studentenführer, Regisseur), Philipp Nicklaus (Professor der Zahnmedizin & Fürst), Jochen Vogel (Grenzsoldat & Bote), Joan Vincent Hoppe (Flugblattverteiler), Einar Dagur Jónsson (1. Russischer Soldat & Dramaturg), Jean-Baptiste Mouret (Psychoanalytiker & Bote), Teofila Ginzel (Klavierschüler & der Knabe Albert), Opernchor, Komparserie, Gewandhausorchester