Wehe jenen Engeln, die in bürgerlichen Gärten notlanden müssen. Nicht erwartet sie Wohlwollen und Fürsorge, vielmehr machen sich die Besitzer der Immobilie sofort daran, die Flügel der Seraphen zu rupfen und zu stutzen. So an der Flucht gehindert, werden sie von den zu Sklavenhaltern avancierten Angehörigen der amerikanischen Mittelschicht dazu missbraucht, durch pseudo-religiösen Humbug und sexuelle Dienstleistungen Profit zu erwirtschaften. Dies gerade im rechten Augenblick, denn das Ehepaar, auf dessen Grundstück die Flügelboten unsanft niedergehen, steht vor dem finanziellen Ruin. Auch hat es sich längst auseinandergelebt. Die Engel müssen neben der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ebenso dazu herhalten, die frustrierte Ehefrau zu schwängern, auf dass sie sich zur Attitüde der Gottesmutter Maria aufwerfe, wie für den von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Gatten als sexuelle Triebabfuhr zu fungieren.
Egoismen amerikanischer Bürgerlichkeit versus Seelen der Engel
Komponistin Du Yun und ihrem Librettisten Royce Vavrek liegt nicht an den Gottes Thron umstehenden himmlischen Heerscharen, „Engel“ bedeutet für sie der unendlich reine und der Verfügbarkeit eigentlich entzogene Wesenskern des Menschen, den anzutasten ein Verbrechen ist. Das 2016 beim Prototype Festival in New York uraufgeführte und im Jahr darauf mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Werk kapriziert sich daher nicht auf religiöse Fragen, es zielt auf den Menschenhandel, wie er sich in Deutschland nicht weniger als in den Vereinigten Staaten von der illegalen Haushaltshilfe bis zum Schwarzarbeiter auf dem Bau alltäglich zuträgt.
Vavrek konfrontiert dramaturgisch eindringlich die Egoismen amerikanischer Bürgerlichkeit mit den ebenso reinen wie geschändeten Seelen der Engel. Yuns Partitur bewegt sich polystilistisch und stark elektrifiziert zwischen diversen Unterhaltungsgenres von Popmusik bis zum Clubsound und brutalem Marsch. Wirklich haften bleiben das Duett der beiden völlig erschöpften, sich nach der Heimat sehnenden erbarmungslos zurechtgestutzten Flügelwesen und die Klage des vom Hausherrn sexuell geschändeten Engels. Sprechen und Singen kontrastieren zugleich und vereinen sich dennoch zur beides transzendierenden Einheit.
Schonungslosigkeit auf der Bühne
Weil das Wuppertaler Opernhaus auch zum Amtsantritt seiner neuen Intendantin Rebekah Rota noch immer saniert wird, weicht die Produktion in die Alte Glaserei aus. Bühnenbildner Sammy van den Heuvel legt einen Steg durch die nüchterne Industriehalle. Dessen hinteres Ende wird von einem Spießersessel beherrscht, seine Monumentalität wächst sich zum scheußlichen Thron für die Möchtegern-Gottesmutter aus. Unterhalb des Stegs befinden sich niedrige, vergitterten Käfige, in denen die Engel beinahe ebenso vor sich hinvegetieren wie Hühner in ihren Legebatterien. Brutal bis an die Grenzen des auf der Bühne überhaupt Möglichen schildert Regisseurin Jorinde Keesmaat, wie sich das Sklavenhalterehepaar und dessen Kundschaft an den Engeln vergehen. Keesmat dokumentiert Vergewaltigung und Verzweiflung in Empörung und Solidarität mit den Opfern weckender Direktheit. Dass solches Los nicht allein die beiden von der Partitur vorgesehenen Flügelwesen trifft, sondern ein Massenphänomen ist, wird begreiflich, indem Keesma ihnen die Statisterie des Hauses als Geschwister an die Seite stellt.
Vokal bewegend
Trefflich hat Ulrich Zippelius den Opernchor der Wuppertaler Bühnen auf seine stilistisch weitgespannte Partie von Renaissanceanklängen bis zu Avantgardismen vorbereitet. Kein Zweifel, die Partitur verführt zu massiven Klangentladungen im Orchester. Johannes Witt gibt dem allzu sehr nach. Das Sinfonieorchester Wuppertal dürfte zu differenzierterem Aufspielen begabt sein. Edith Grossmann ist die Idealbesetzung für die frustrierte Mittelschichtshausfrau Mrs. X.E. Wie Spießertum, Muttergottesattitüde und ungehemmte Brutalität sich mühelos unter dem Rubrum monströser Bürgerlichkeit vereinen, Grossmann beglaubigt es singend, sprechend, spielend. Für ihren Gatten Mr. X.E. dimmt Zachary Wilson seinen eleganten Bariton rollenadäquat zur Unscheinbarkeit herunter. Zutiefst ins Gemüt greifend gibt Anna Angelini den Girl Angel so seelenwund, dass es die Zuhörenden schmerzen muss. Jason Lee ist Boy Angel. Kein Zweifel, die Wuppertaler warten zu Spielzeitbeginn mit einem markanten Weckruf zur Menschlichkeit auf.
Oper Wuppertal
Yun: Angel’s Bone
Johannes Witt (Leitung), Jorinde Keesmaat (Regie), Sammy van den Heuvel (Bühnenbild und Kostüme), Pascal Merighi (Choreografie), Frouke ten Velden (Video und Licht-Design), Edith Grossmann, Zachary Wilson, Anna Angelini, Jason Lee, Gerben van der Werf, Marco Agostini, Banu Schult, Anna-Christine Heymann, Opernchor der Wuppertaler Bühnen, Sinfonieorchester Wuppertal