Man reibt sich die Augen. Denn der initiale Fontainebleau-Akt in der nahezu ungekürzten französischen Version von Verdis „Don Carlos“ ist in dieser Neuinszenierung nicht einfach nur in ein mystisches Halbdunkel getaucht. Was man sieht, und das ist wenig, kommt geradewegs aus der Mottenkiste eines uninspirierten Stehtheaters, das aus längst vergangen geglaubten Opernzeiten kommend seine Auferstehung feiert. Oder hat hier die Lichtregie nur deshalb eine Arbeitspause eingelegt, damit das stimmungsvolle Lagerfeuer, das ein verliebter Don Carlos für seine Elisabeth entfacht, besser zur Geltung kommt?
Zu Beginn dieser Premiere des drei Opern von Verdi gewidmeten Frühjahrfestivals der Opéra de Lyon entstehen jedenfalls Fragen über Fragen. Legt Filmregisseur Christophe Honoré, der sich hier zum vierten Mal ins Genre des Musiktheaters verirrt hat, nur auf ähnlich geschickte Weise eine falsche Fährte, wie dies Peter Konwitschny in seiner Sicht auf eben diese Fassung des Werks in Hamburg und Wien so genialisch getan hat? Werden wir in den kommenden Akten womöglich eine spannende Zeitreise erleben, die uns vom historischen Kontext des Stücks in die Gegenwart führt? Oder geht das jetzt wirklich so weiter? Wenn letzteres zutrifft, müsste es ein quälender Abend werden.
Die ordnende Hand eines Regisseurs ist zunächst kaum erkennbar
Das wird er dann zum Glück durchaus nicht. Wobei der Abend in szenischer Hinsicht so seine Anlaufzeit braucht. Die mit einem überdimensionalen Altarbild des Gekreuzigten dekorierte Klosterszene des zweiten Akts, in dem schon klar ist, dass Carlos seine Liebe nicht wird leben können, da sein Vater die Elisabeth zu seiner Gattin und damit zu Carlos Stiefmutter machen wird, sie zeigt uns den Infanten gar attraktiv mit freiem Oberkörper und somit als veritablen Wiedergänger des Schmerzensmannes Jesus Christus. Die Auf- und Abtritte des Chores geraten dazu wiederum so unmotiviert, dass die ordnende Hand eines Regisseurs kaum erkennbar ist. Das zweite Bild des zweiten Akts überrascht dann freilich mit einer gewagten Neudeutung der Seconda Donna der Oper.
Prinzessin Eboli, die sich ihrerseits einige Hoffnungen auf Carlos macht, tritt für ihr Schleierlied nicht als strahlendes Liebesluder auf. Sie fährt auf die Bühne – in einem Rollstuhl. Ob die mezzofamose, die Register vorbildlich verblendende Eva-Maud Hubeaux während der Proben gestürzt ist? Und so der Regieeinfall entstand, aus der Not eine Tugend zu machen? Bis zum Schlussapplaus, zu dem die Sängerin vergnügt vor den Vorhang springt, bleibt das unklar. Dann wird deutlich: Nein, Ebolis Verbannung in den Rollstuhl, ihr Andichten eines körperlichen Defekts ist Absicht, ist Konzept der Regie.
Wie die Prinzessin Eboli dank Mezzo Eva-Maud Hubeaux zur Königin der Herzen wird
Es zeugt von der sängerdarstellerischen Größe der Französin, dass sie ihr Figurenprofil durch das gespielte Handicap, das ihr extrem begrenzte Bewegungsmöglichkeiten bietet, intensiv und glaubwürdig entwickelt. Denn natürlich schärft es die Tragik der Eboli, wenn sie von Carlos gleich dreifach, als Frau, als Prinzessin und als Behinderte, verschmäht wird. Der Abend nimmt musikalisch wie szenisch an Fahrt auf. Mit der Ballettszene des dritten Akts freilich kommen wieder Zweifel an der Stringenz des Konzepts auf.
Es wird nicht klar, ob hier nun doch die politische Botschaft des Werks zum Tragen kommen soll oder das Ballett der französischen Tradition der Grand Opéra gemäß einfach als Divertissement abschnurren soll. Sind die vier geradewegs „Les Miserables“ entsprungenen halbnackten geschundenen Gestalten die Opfer dieser folkloristischen Mehrheits- Tanzgesellschaft?
Das Drama nimmt an Intensität und Dichte immer weiter zu
Im Autodafé begegnen wir dem Quartett dann wieder. Es wird dekorativ auf der drei Etagen umfassenden Galerie gehängt, zappelt und zittert dazu bis zum Aktschluss immer wieder gar herzerweichend. Mit dem vierten Akt, der Regisseur hält sich nun mit seinen Einfällen zurück, nimmt das Drama an Intensität und Dichte immer weiter zu. Die Personenregie bleibt weiterhin höchst überschaubar, das Inszenieren in nun durchweg stimmigen Bildern indes beeindruckt. König Philipp singt seine Paradearie zwischen kaltgrauen Klostermauern, er selbst, der seinen Sohn in Ketten gelegt hat, ist ein Gefangener, seine Einsamkeit ist berührend.
Michele Pertusi singt davon mit umwerfendem Mezza Voce, ohne je larmoyant zu werden. Und der warm timbrierte italienische Bass-Bariton, der die Partie auf Französisch eigens neu lernen musste, ist perfekter Kontrast zum rabenschwarzen Bass des Roberto Scandiuzzi, der dem Großinquisitor wieder einmal erschütternde Präsenz verleiht.
Wie das Ideal der Voix Mixte auch den für Bariton zum Königsweg wird
Überhaupt: Die Sängerbesetzung ist nicht einfach nur sensationell gut, sie ist stimmig und dem französischen Idiom der Fassung punktgenau angemessen. Gerade in dieser Hinsicht gebührt dem Marquis de Posa des Stéphane Degout die Krone des Abends. Die sonst für Tenöre des französischen Fachs geforderte Voix Mixte, ein Singen mit hohem Anteil an Kopfresonanzen, wendet er für seinen hellen und dennoch markanten Bariton so natürlich an, dass jedwede Bedenken, sein Singen könnte manieriert werden, ausgeräumt wirken.
Sergey Romanovsky als sein Freund Carlos braucht ein wenig Anlaufzeit, um warm zu werden, dennoch ist sein schlank heller Tenor eine gute Wahl für die Titelpartie, deren Figurenprofil deutlich introvertiertere Anteile hat als in der italienischen Version des Werks. Sally Matthews beweist als Elisabeth ihren erfolgreichen Fachwechsel aus der Welt der Alten Musik ins jugendlich dramatische Fach des 19. Jahrhunderts. Allenfalls ihr deutliches Vibrato mischt sich nicht ideal mit den dezidiert geraden Stimmen ihrer Kollegen.
Musikdirektor Daniele Rustioni ist der Star
Heimlicher Star des Abends ist erneut Daniele Rustioni. Der junge italienische Musikdirektor in Lyon läuft mit seinem glänzenden Orchester nach dem „Macbeth“ erneut zu Hochform auf, er arbeitet nicht nur die feinen Farben der französischen Fassung des „Don Carlos“ mit Liebe zum Detail heraus, er sorgt auch für immer weiter gesteigerte Hochspannung. Dank der musikalischen Ausnahmequalität wird es dann doch ein bewegender Verdi-Abend.
Opéra de Lyon
Verdi: Don Carlos
Daniele Rustioni (Leitung), Christophe Honoré (Regie), Alban Ho Van (Bühne), Pascaline Chavanne (Kostüme), Michele Pertusi, Sergey Romanovsky, Stéphane Degout, Roberto Scandiuzzi, Patrick Bolleire, Sally Matthews, Eva-Maud Hubeaux, Orchester & Chor der Opéra de Lyon
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