Als genuine wie ideale Richard Strauss-Orchester gelten noch immer jene Klangkörper, die einst die üppig besetzten rauschhaften Partituren zu Lebzeiten des Komponisten aus der Taufe gehoben haben. Das sind die Wiener Philharmoniker, die Sächsische Staatskapelle Dresden, das Bayerische Staatsorchester in München. Die „Elektra“, die „Salome“ oder eben „Die Frau ohne Schatten“ sind an den betreffenden Staatsopern notfalls auch ohne Orchesterproben abrufbar, weil sie eben über Musikergenerationen hinweg der DNA der Ensembles gleichsam eingeschrieben wurden. Kein Wunder, dass just jenes Werk, dessen stimmliche und orchestrale Anforderungen auch durch die pure Länge des Stücks so immens sind, hier weitaus häufiger auf den Spielplänen auftaucht als an anderen Opernhäusern: „Die Frau ohne Schatten“. In Dresden hat sich Christian Thielemann für seinen Ausstand eine Neuinszenierung dieser „Zauberflöte“ der Moderne gewünscht, die er ab März an der Elbe dirigieren wird. Jüngst hatte der designierte Nachfolger von Daniel Barenboim als GMD der Staatsoper Berlin sie auch in Wien geleitet. In München zauberte Kirill Petrenko gegen Ende seiner dortigen Amtszeit mit seinem Traditionsorchester eine fantastisch detailverliebte – und sehr wohl penibel geprobte – Einstudierung.
Diese dreifache Frauenpower ließe sich ohne Umwege an die durch Strauss geprägten Staatsopern in Dresden, München und Wien transferieren
Und nun also „Die Frau ohne Schatten“ in Toulouse. Schon in Lyon war zu Beginn der Saison durch ein enorm begeisterungsfähiges Publikum zur Kenntnis zu nehmen, dass eben nicht nur der Wagnérisme in Frankreich noch nahezu so sehr blüht wie im 19. Jahrhundert. Auch Richard Strauss hat hier eine enorme Anhängerschar, die auch das symbolistisch verschwurbelte und in seinem Frauenbild nicht gerade moderne deutsche Libretto des Hugo von Hofmannsthal kaum abschreckt. Im äußersten Süden Frankreichs, schon nahe der spanischen Grenze, zeugte jetzt der Jubel beim Schlussapplaus von enormer Kenntnis des Publikums für ein Repertoire, das ja so gar nicht auf unmittelbar mediterrane Weise mitreißt. Doch die Melomanen in Südfrankreich scheinen ein ausgeprägtes Faible für große Stimmen zu haben, also für dramatische Soprane wie Heldentenöre und -baritone. Und gerade für das Aufspüren exquisiter Vertreter dieser großer Stimmfächer ist Christophe Ghristi ein selten gewordener Fachmann. Dem Künstlerischen Direktor der Opéra national du Capitole gelingt es seit Jahren, internationale Spitzensänger nach Toulouse zu locken, die an seinem Theater mit Rollendebüts den nächsten Schritt in dramatische Gefilde wagen wollen.
Vom gazellengrazilen Girren zur fraulichen Wandlung einer empathiebegabten Heldin
So traute sich die französische Mezzosopranistin Sophie Koch, zuvor ein weltweit gefeierter Octavian in Strauss‘ „Der Rosenkavalier“, an Ghristis Haus erst an die Kundry im „Parsifal“, dann an ihre erste Isolde und nun an die Amme in „Die Frau ohne Schatten“. Sie wertet die mephistophelische Giftmischerin jetzt mit so verführerischen wie hintergründig ausgeloteten Farben auf, dass sie das spitz- und scharftonige, oft versteifende Kreischen mancher Rollenvertreterinnen gänzlich meiden kann. Koch liegt die Partie, die Bruststimmenwucht und Bombenhöhe vereint, absolut perfekt. Die titelgebende Kaiserin, die sich dank des bösen Pakts der Amme den ihr fehlenden Schatten (also ihre Fähigkeit, Mutter zu werden) erhandeln soll, singt an der Garonne erstmals Elisabeth Teige – die letzt- und diesjährige Bayreuther Senta und Elisabeth. Die Norwegerin beweist, dass die liedhafte Lyrik und der Silberschimmer einer Elisabeth Schwarzkopf und die durchdringende Dramatik einer Leonie Rysanek keine Widersprüche zu sein haben – schließlich sollte ein Kaiserinnen-Sopran beide Welten vereinen. Die gazellengrazil girrende, mädchenhaft koloraturenzwitschernde Agilität des ersten Aufzugs und die frauliche Wandlung zur empathiebegabten Heldin mit den nun auch die tiefsten Register fordernden Passagen des dritten Aktes absolviert Elisabeth Teige mit scheinbarer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit. Ricarda Merbeth, früher selbst eine formidable Kaiserin, ist nun gereift zur Färbersfrau, die sie mit einem hochdramatischen Sopranstamina und einem Format ausstattet, das an die legendäre Birgit Nilsson erinnert. Sie legt sich wie mit jauchzender Lust in die Extremlagentöne ihrer Partie, die sie mit sicherer Wucht der präzise projizierenden Stimme in den Saal schleudert. Diese dreifache Frauenpower ließe sich ohne Umwege an die durch Strauss geprägten Staatsopern in Dresden, München und Wien transferieren. Da wird Toulouse zum Sprungbrett nach ganz oben.
Die beiden Hauptrollen für die Herren sind nicht minder stark besetzt. Der Amerikaner Issachah Savage adelt den Kaiser mit einer idealen Siegmundstimme – sein Heldentenor ist so geschmeidig wie schmelzend. Die skulpturale Gestalt von Savage scheint wie aus einer anderen Welt zu kommen. Brian Mulligan wiederum stattet den Sympathieträger Barak – die einzige Figur des Werks, die einen menschlichen Namen trägt – mit der berührenden Wärme seines Bass-Baritons aus. Sein charakteristisches Timbre hat in der Höhe eine angenehm helle Glut.
Ein genuines Strauss-Orchester tief im französischen Süden
Ja, und dann gibt es neben diesem Gespann aus fünf grandiosen Strauss-Sängern eben das Orchestre national du Capitole, das Frank Beermann in den Proben zu einem Klangkörper geformt hat, der es mit den zu Anfang genannten genuinen Strauss-Orchestern unmittelbar aufnehmen kann. Anders als Kirill Petrenko, der in seiner Münchner Einstudierung von berückenden Details ausging, die sich nicht immer zur Summe des großen Ganzen fügten, geht Beermann die Partitur mit dem Wissen und Können eines dramaturgischen Dirigenten an, der stets die Gesamtdisposition gestaltet, die Logik der wiederkehrenden Leitmotive mitdenkt, die Spannungskurven mit einer durchgehenden Sogkraft gestaltet, ohne dabei je in falsches Pathos oder aufgesetzte Überwältigungsgesten abzugleiten. Beermanns Strauss schwitzt nicht, der deutsche Dirigent sorgt mit klarem Kopf für Berauschung. Er weiß genau, wo er sich mit dem Orchester Zeit lassen muss, um der psychologischen Verwandlung der Figuren nachzuspüren, um den auskomponierten liebevollen Blicken Baraks zu seiner in ihrer Frustration gefangenen Frau nachzulauschen. Schließlich scheinen sich bei Strauss die harmonischen Wandlungsprozesse stets auf die inneren Wandlungen zumal der Kaiserin wie der Färberin zu beziehen. Selten spürt und hört man sie in dieser Klarheit, die direkt zu Herzen geht. Die grandiose Klimax im Finale des zweiten Aufzugs mit ihren von der Amme beschworenen Übermächten bauscht Beermann nicht auf – er lässt sie aus dem logischen Fluss der Partitur heraus entstehen. Dadurch geraten auch die Fortissimi nie zu laut, weil sie aus den vielen leisen Stellen und deren Affekten hervorgehen und somit nie zum Effekt degradiert werden.
Szenischer Jugendstil
Die neu einstudierte Inszenierung von Nicolas Joel, einst Intendant in Toulouse und später in Paris, mit den an Gustav Klimt gemahnenden Kostümen von Franca Squarciapino und dem monumentalen, Ober- und Unterwelt der beiden Paare akzentuierenden Bühnenbild von Ezio Frigerio verorten „Die Frau ohne Schatten“ visuell im Jugendstil, somit in der Entstehungszeit des Werks. Keine das Frauenbild Hofmannsthal befragenden Subtexte oder sonstigen kritischen Infragestellungen trüben dieses Märchen für Erwachsene, die innerlich Kinder geblieben sind.
Opéra national Capitole Toulouse
R. Strauss: Die Frau ohne Schatten
Frank Beermann (Leitung), Nicolas Joel (Regie), Stephen Taylor (Künstlerische Mitarbeit), Ezio Frigerio (Bühne), Franca Squarciapino (Kostüme), Vinicio Cheli (Licht), Issachah Savage, Elisabeth Teige, Sophie Koch, Brian Mulligan, Ricarda Merbeth, Aleksei Isaev, Dominic Barberi, Damien Bigourdan, Thomas Dolié, Julie Goussot, Pierre-Emmanuel Roubet, Rose Naggar-Tremblay, Katharina Semmelbeck, Orchestre national du Capitole